Leseprobe aus "Schwestern
der Angst"
von Lydia Mischkulnig
Die
Firma, bei der ich arbeitete,
produziert Trickfilme für einen Konzern. Das aktuellste
Projekt handelte von
Medikamenten, mit denen sich die Intelligenz steigern lässt.
Das
menschliche Gehirn ist eine Goldgrube. Digitale Effekte
können seine
Leistungen erklären und die Wirkungsweise der besonderen
Medikamente bewerben.
Die Vorarbeiten zum Trickfilm führten Regisseur, Assistenten
und sogar mich in
die Tiefen der menschlichen Psyche.
Die pharmazeutische Abteilung des Konzerns hatte dazu Fachzeitschriften
geschickt. Ich schmökerte schon eine Weile darin, obwohl ich
selbst nur für
die Werbefilme banaler Nahrungsmittel zuständig war. Wie durch
magische Kraft
angezogen, blätterte ich immer schneller.
Glückshormone tummeln sich im
Synapsenspalt und treiben uns zur Höchstleistung an.
Irgendetwas lockte mich.
Mein Gehirn war durch das Wort "Glück"
stimuliert. Ich befeuchtete die Spitze des Zeigefingers, um die
Blätter besser
in den Griff zu bekommen. Dann ertappte ich die Seite, nach der ich
suchte, die
Substanz, diesen besonderen Botenstoff, der mich bis aufs
Äußerste reizte, der
gemischte Gefühle auf höchstpersönlicher
Ebene erregte und mich süchtig
machte. Keine leistungssteigernde Droge, keine wissenschaftliche
Erkenntnis,
sondern ein simples Interview. Ein Festredner und eine Festrednerin
waren
abgebildet, unter den Portraits standen die Namen.
Ich erkannte Marie sofort, obwohl ich sie seit Jahren nicht mehr aus
der Nähe
zu Gesicht bekommen hatte. Sie trug eine Brille. Ich las den Bericht
über
Serotonin mit angehaltenem Atem. Marie schien Vorträge auf
Englisch und Französisch
zu halten. Sie war Professorin und wurde als Koryphäe unter
den forschenden Ärzten
des Konzerns bezeichnet. Der Mann an ihrer Seite war der, den ich
für mich erwählt
habe, Paul.
Ich erhob mich von meinem Schreibtisch und ging in die
Betriebsküche, trank
Wasser, um das aufgebrachte Gemüt zu kühlen. Dann
ging ich ins Büro meiner
Chefin. Sie war nicht an ihrem Platz. Ich öffnete die Lade des
Schreibtisches
und zog die Lupe hervor, mit der sie das Kleingedruckte auf Rechnungen
studiert.
Ich legte die Lupe auf die Gesichter der Festredner und beugte mich,
den Fokus
auf die Münder richtend, hinunter. Im Bildtext wurden Marie
und Paul als Paar
bezeichnet, doch von Ehe war nicht die Rede. Sie glichen einander nicht
durch
die gemeinsam verlebte Zeit, sondern durch die Dünnlippigkeit.
Marie hatte
einst sinnliche Lippen gehabt und Paul auch, soweit ich mich erinnerte.
Immerhin
besaß er noch sein energisches Kinn. Ich entdeckte in den
Zügen bitteren
Ernst. Beide Sprecher waren durch engagierte Strenge gezeichnet. Die
Lupe
verrutschte und die Buchstaben verdeutlichten: Marie war nicht nur
Ärztin, sie
wurde dazu auch noch als modebewusste und attraktive Wissenschaftlerin
vermarktet.
Gewiss, ich war eifersüchtig und aggressiv wegen Paul gewesen,
aber dass sie so
nachtragend sein würde, meine Marie, hätte ich nicht
vermutet. Im Interview
steht kein Hinweis auf mich. Wie konnte meine Schwester so gemein sein
und mich
aus ihrer Karriere löschen, indem sie meine Identität
verschwieg. Man fragte
sie im Interview, weshalb sie sich mit Neurophysiologie befasse. Und
was für
ein Gefasel über das Geheimnis der
Seele des Menschen gab
Marie hier zum
Besten? Peinlich. Wir wussten es beide besser: Ich war der Anlass
für ihre
besondere Hingabe an dieses Fach. Sie verstieß in weiteren
Sätzen nicht nur
gegen mich, sondern auch gegen meine Würde als Frau, denn alle
Ermutigungen,
die sie in ihrem Leben erfahren hätte, verdankte sie
ausschließlich dem Zufall
und Pauls Förderung, sagte sie. Ihre
Familienverhältnisse beschrieb sie als
eng und erstickend. Meine Sorge um sie handelte sie als
"Unterdrückung
gewisser Familienmitglieder" ab. Das konnten unmöglich die
Worte meiner
Marie sein. Paul sprach aus ihrem Mund. Er stand ja zwischen uns, er
hat uns
entzweit. (...)
Lydia
Mischkulnig: "Schwestern der Angst"
haymonverlag, 2010.
Buch
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Als
Kinder sind Marie und Renate
unzertrennlich. In einer
Familie, die geprägt ist von Verlust
und Misstrauen,
schafft Renate für ihre Schwester eine eigene Welt aus der
Sehnsucht nach
Unversehrtheit und Glück. Doch dann, Jahre später,
tritt Paul in das Leben der
Mädchen und spaltet ihre vermeintliche Einheit. Von beiden
umworben,
entscheidet er sich für Marie - und plötzlich kippt
die liebende Fürsorge
Renates in Hass und subtil tobenden Zorn. Je tiefer der Graben zwischen
den
Frauen wird, umso gefährlicher verzerrt sich Renates Blick auf
die Welt. Sie
heftet sich dem Paar an die Fersen, verfolgt ihre Schwester,
überwacht sie
zuerst aus der Distanz, rückt dann aber unaufhaltsam
näher - bis zur letzten
Konsequenz.
In kunstvoller Sprache und mit ungeschminktem Blick nimmt Mischkulnig
die
Perspektive Renates ein, eine Perspektive, in der sich Wirklichkeit und
Paranoia
überlagern.
Lydia Mischkulnig wurde 1963
in Klagenfurt geboren.
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