Die Spinnengerechtigkeit
Auch die Spinne wollte einst gerecht
sein und sagte der Besenfrau, welche alle Wochen einmal ihr Haus in den Staub
legte, sie sei gewiß kein so
böses
Geschöpf, als man sie allgemein dafür halte; es sei freilich wahr, sie empfinde
nicht alles immer richtig, was an den äußersten Spitzen ihrer langen Spindelgebeine
vorgehe. Und wenn sie zuzeiten genötigt sei, ein unglückliches Tier wegen Frevel
und Unruhe zu ihrem Haupt bringen zu lassen, so sei sie ganz unschuldig, wenn
ihre gefühllosen Fingerspitzen ein solches Tier etwa zu hart in die Klauen fassen.
Die große Kunstgewalt zum Morden, die der Spinne einwohnt, fiel mir auf. Es
wunderte mich zum Erstaunen, wie dieses elende Tierchen dahin gekommen, im Mittelpunkt
eines für sie mit so viel Kunst organisierten Mördersitzes zu wohnen und gleichsam
einen zum Dienst ihres Lauerns und Mordens geschaffenen Weltkreis um sich her
zu besitzen, den sie dennoch im Falle seiner Verletzung und sogar im Falle seiner
gänzlichen Zerstörung aus sich selbst wieder herzustellen im Stande ist. Doch,
es fiel mir bald auf, daß, je kleiner das Tier ist, das
vom
Morden lebt, desto mehr bedarf es der tierischen Kunst, dieser großen Dienstmagd
des tierischen Lauerns, Fangens und Mordens, zu seiner tierischen Erhaltung;
und in diesem Gesichtspunkt war mir ganz heiter, daß das elende Tierchen, die
kleine Spinne, eine so ganze Kunstwelt zu ihrem Dienst notwendig hat. Sie müßte
ja ohne diese Kunstwelt, die ihr zu allen Bedürfnissen ihres Lauerns, Fangens
und Mordens dienend die Hand bietet, wahrlich verrecken oder betteln gehn.
Die Sache der Spinne schien mir jetzt vollkommen gerechtfertigt
oder wenigstens erklärt. Indessen möchte ich doch um alles in der Welt kein
Faden ihres Gewebes sein, noch viel weniger ein Spinnenbein, das sie nach allen
Richtungen zu ihrem Fraße hinträgt und unglückliche, gefangene Tierchen zu ihrem
Haupt bringt und ihr vor's Maul legt.
(von Johann Heinrich Pestalozzi; 12.1.1746-17.2.1827)