Unsere Gemütsbewegungen tragen uns über uns hinaus.

Jene, die den Menschen vorwerfen, sie gierten immer nach künftigen Dingen, und uns lehren, lieber die gegenwärtigen Güter zu ergreifen und uns mit ihnen zufriedenzugeben, da wir doch das Künftige noch weniger im Griff hätten als das Vergangne, legen den Finger in der Tat auf die häufgste der menschlichen Verirrungen (wenn man denn Verirrung nennen darf, wozu die Natur selber uns zwecks Weiterführung ihres Werks hinlenkt, indem sie, mehr auf unser Handeln als unsre Erkenntnis bedacht, uns dieses wie so manches andre trügerische Spekulieren eingepflanzt hat). So sind wir niemals bei uns, wir sind stets außerhalb. Furcht, Verlangen und Hoffnung schleudern uns der Zukunft entgegen und berauben uns des Gefühls und der Wertschätzung dessen, was ist, um uns mit dem in Anspruch zu nehmen, was sein wird ­ selbst wenn wir nicht mehr sind. Unglücklich der Geist, der um Künftiges bangt. Dieses große Gebot wird von Platon oft angeführt: Tu das Deine und erkenne dich selbst! Jedes der beiden Satzglieder umfaßt unsere ganze Pflicht, gleichzeitig umfaßt jedes das andre: Wer das Seine täte, würde sehen, daß die erste Lektion darin besteht, zu erkennen, was er ist und was ihm zukommt. Wer sich aber selbst erkennt, nimmt Fremdes nicht mehr für Eignes. Vor allem liebt er sich selbst und bildet sich weiter. Überflüssige Beschäftigungen sowie unnütze Gedanken und Vorhaben weist er von sich. Wie die Torheit, selbst wenn sie erreicht hat, was sie begehrte, sich niemals zufriedengibt, begnügt sich die Weisheit stets mit dem Vorhandenen und wird niemals mit sich unzufrieden sein. So entbindet auch Epikur seinen Weisen von der Pflicht zur Vorausschau und zur Vorsorge für die Zukunft.

Unter den Gesetzen, welche die Verstorbenen betreffen, scheint mir jenes wohlbegründet, das nach dem Tod der Fürsten die Überprüfung der von ihnen begangnen Taten verlangt ­ sind Monarchen doch die Duzbrüder, wenn nicht die Herren der Gesetze. Durchaus zu begrüßen ist es deshalb, daß die Gerechtigkeit das, was sie nicht über die Lebenden vermochte, wenigstens über ihren Nachruhm und Nachlaß vermag: Dinge, die wir oft höher schätzen als das Leben. Es handelt sich um einen Brauch, der den Völkern, die sich an ihn halten, ungemeine Vorteile bringt und auch für alle guten Fürsten wünschenswert ist, die ja sonst Grund zu der Klage haben, daß man ihrer nicht anders gedenke als der schlechten.

Wir schulden den Königen samt und sonders Ergebenheit und Gehorsam, denn beides gilt ihrem Amt; Achtung und Zuneigung aber schulden wir nur ihrer Tugend. Laßt uns der öffentlichen Ordnung halber die Monarchen, auch wenn sie dessen unwürdig sind, geduldig ertragen, ihre Laster verbergen und ihre belanglosen Taten durch unser Lob aufwerten, solang ihre Macht unserer Unterstützung bedarf. Ist die Treuepflicht aber beendet, wäre es um der Gerechtigkeit und unsrer Freiheit willen verfehlt, auf den Ausdruck unsrer wahren Gefühle zu verzichten und namentlich den guten Untertanen den Ruhm zu versagen, daß sie treu und brav einem Herrn gedient haben, dessen Unzulänglichkeiten ihnen sehr wohl bekannt waren ­ würden wir doch der Nachwelt damit ein so nützliches Beispiel vorenthalten.
Jene hingegen, die sich daranmachen, aus irgendeiner persönlichen Dankesschuld einem tadelnswerten Fürsten unangemeßnen Nachruhm zu verschaffen, üben private Gerechtigkeit auf Kosten der öffentlichen. Titus Livius sagt zutreffend, daß die Sprache der Menschen, die das Brot der Könige äßen, stets von lächerlichen Übertreibungen und haltlosen Zeugnissen strotze: Ohne Unterschied hebe jeder die Tapferkeit und Herrschergröße seines Königs in den Himmel.

Man mag die Verwegenheit jener beiden Soldaten tadeln, die dem Kaiser Nero ihre Meinung offen ins Gesicht sagten. Als der eine von diesem gefragt wurde, warum er ihm übelwolle, antwortete er: »Ich liebte dich, als du es wert warst, aber seit du zum Muttermörder geworden bist, zum Feuerleger, Marktschreier und Wagenlenker, hasse ich dich, wie du es verdienst.« Und der zweite auf die Frage, warum er ihn töten wolle: »Weil ich kein anderes Mittel gegen deine endlosen Schandtaten weiß.« Daß aber nach seinem Tod seine tyrannischen und schurkischen Verfehlungen von allen Seiten und für alle Zeiten öffentlich bezeugt wurden ­ wer, der gesunden Menschenverstand hat, könnte auch dies tadeln?

Es mißfällt mir, daß sich in ein so hehres Gemeinwesen wie das spartanische folgende verlogne Zeremonie eingeschlichen hat: Alle, Verbündete, Nachbarn und Heloten, Männer und Frauen wild durcheinander, zerschnitten sich beim Tod ihrer Könige die Stirn zum Beweis ihrer Trauer und schrien und jammerten, daß ebendieser, wie immer er in Wirklichkeit war, der beste überhaupt gewesen sei. Damit aber spendeten sie dem Rang das Lob, das dem Verdienst gebührte; und das Lob, das dem höchsten Verdienst gebührte, nahm für sie den letzten und niedrigsten Rang ein.

Aristoteles, der alle Dinge hin und her wendet, fragt sich im Hinblick auf das Wort Solons, daß niemand vor seinem Tod glücklich gepriesen werden könne, ob dann wohl selbst derjenige glücklich zu preisen sei, dessen Leben und Sterben untadlig war, wenn es seinem Nachruhm wie seinen Nachkommen übel ergehe. Solange wir uns noch regen und bewegen, planen wir voraus, wohin wir wollen; sind wir aber außerhalb des Seins, bleibt uns das Seiende verschlossen. Solon hätte besser sagen sollen, daß der Mensch nie und nimmer glücklich sei ­ ist er es doch erst, wenn er nicht mehr ist.

Bertrand du Guesclin fiel bei der Belagerung der Burg Randon nahe Puy in der Auvergne. Als die Belagerten danach kapitulierten, wurden sie gezwungen, die Schlüssel der Feste auf der Leiche des Verstorbnen zu übergeben.
Bartolomeo d'Alviano, General der venezianischen Armee, war im Kriegsdienst der Republik bei Brescia gefallen, und da seine Leiche zur Überführung nach Venedig durch das Veronesische, das Feindesland war, gebracht werden mußte, vertraten in der Armee die meisten Offiziere die Meinung, daß man bei den Veronesern um sicheres Geleit dafür nachsuchen solle. Dem widersprach jedoch Teodoro Trivulzio: Er fand es besser, den Durchzug selbst auf die Gefahr hin zu erzwingen, daß es dabei zur Schlacht komme; denn es sei nicht schicklich, sagte er, daß jemand, der im Leben niemals Angst vor seinen Feinden gehabt habe, als Toter nun den Anschein erwecke, sie zu fürchten.
In der Tat findet sich schon etwas Ähnliches bei den Griechen, nach deren Gesetzen jeder, der sich von den Feinden die Leiche eines Gefallenen zur Bestattung erbat, sich damit geschlagen gab und kein Recht mehr hatte, Triumphzeichen zu errichten. Demjenigen aber, an den ein solches Ansinnen gerichtet wurde, galt dies als Anerkennung seines Sieges. Auf solche Weise büßte Nikias die Oberhand ein, die er eindeutig über die Korinther gewonnen hatte, während umgekehrt Agesilaos die ihm auf recht zweifelhafte Weise über die Böotier zugefallne damit zu sichern vermochte.
Dergleichen Dinge könnten verwunderlich erscheinen, wäre es nicht zu allen Zeiten üblich gewesen, die Sorge um uns selbst über dieses Leben hinaus weiterzuhegen und sogar zu glauben, daß die Gunst des Himmels uns oft ins Grab begleite und unseren Gebeinen noch hilfreich sei ­ dafür gibt es so viele Beispiele aus der Antike (von unsren eigenen ganz abgesehn), daß ich mich hierüber nicht auszulassen brauche.

Kaum einer reißt sich mit der Wurzel aus dem Leben,
kaum einer löst sich ganz vom toten Leibe;
fast jeder hofft, daß etwas von ihm bleibe,
fast jeder meint, es müßt' ihn auch in Zukunft geben.

Eduard I., König von England, der in den langen Kriegen zwischen ihm und König Robert von Schottland erlebt hatte, wie sehr seine Gegenwart seinen Unternehmungen zum Vorteil gereichte, weil er bei allem, was er persönlich unternahm, den Sieg davontrug, verpflichtete sterbend seinen Sohn durch feierlichen Eid, dafür zu sorgen, daß nach dem Tod der königliche Leichnam gekocht, dann das Fleisch von den Knochen gelöst und begraben werde, während er diese jedoch aufbewahren und sie jedesmal im Heer bei sich tragen solle, wenn er sich gegen die Schotten im Krieg befände ­ als hätte das Schicksal den Sieg ein für allemal an sein Gebein geheftet!
Jan Zizka, der die Irrtümer Wycliffes verfocht und damit Böhmen in Unordnung stürzte, wollte, daß man ihm nach seinem Tod die Haut abziehe und hieraus eine Trommel zur Anfeuerung im Krieg gegen seine Feinde fertige ­ im Glauben, daß dies dazu beitragen würde, die von ihm errungenen Erfolge fortzusetzen. So führten auch gewisse Indianer im Kampf gegen die Spanier die Gebeine eines ihrer Häuptlinge eingedenk des Kriegsglücks bei sich, das ihn zu Lebzeiten begleitet hatte. Und andere Völker in demselben Erdteil schleppen die Leichen der in den Schlachten gefallnen tapferen Männer mit in die nächsten Kriege, weil sie sich davon Glück und Ermutigung versprechen.
In den ersten Beispielen will man den durch vergangne Taten erworbenen Ruhm lediglich über das Grab hinaus bewahren, in den letzten jedoch soll das Vermögen zu weiteren Taten hinzutreten. Da hat, was über Hauptmann Bayard berichtet wird, doch wesentlich mehr Karat: Als er sich durch einen Arkebusenschuß tödlich verwundet sah und man ihm riet, sich aus dem Schlachtgetümmel zurückzuziehn, antwortete er, daß er an seinem Ende keinesfalls anfangen werde, dem Feind den Rücken zu wenden; und nachdem er weitergekämpft hatte, solang seine Kräfte reichten, und nun, schwach geworden, vom Pferd zu sinken begann, befahl er seinem Quartiermeister, ihn an den Stamm eines Baumes zu legen ­ aber so, daß er mit dem Gesicht gegen den Feind gekehrt stürbe; wie es dann auch geschah.
Ich muß noch ein Beispiel anführen, das in diesem Zusammenhang ebenso bemerkenswert ist wie nur irgendeins davor. Kaiser Maximilian, Urahn des zur Zeit regierenden Königs Philipp, war ein mit guten Gaben überreich begnadeter Fürst; unter anderem zeichnete ihn eine außergewöhnliche körperliche Schönheit aus. Im Unterschied zu den anderen Fürsten jedoch, die bei der Abwicklung der wichtigsten Staatsgeschäfte ihren Topfstuhl zum Thron zu machen pflegen, gehörte es zu seinen Eigenheiten, daß er auch dem vertrautesten Kammerdiener niemals erlaubt hätte, ihm bei der Verrichtung seiner Notdurft zuzusehn. Wenn er sein Wasser abschlagen wollte, stahl er sich hinweg, und schamhaft wie eine Jungfrau wies er es zurück, vor einem Arzt oder wem auch immer die Körperteile zu entblößen, die man versteckt zu halten gewohnt ist.
Selbst ich, der ich ein so unverschämtes Mundwerk habe, bin von Natur aus mit dieser Verschämtheit belastet. Entleerungsdrang oder Wollust müssen schon übermächtig sein, ehe ich irgend jemanden die Körperteile oder Verrichtungen sehen lasse, die niemanden sehn zu lassen unsre Sitte vorschreibt. Die Sache ist mir peinlicher, als es, meine ich, einem Mann zukommt ­ vor allem einem Mann meines soldatischen Standes.
Maximilian aber war von diesem Skrupel derart besessen, daß er in seinem Testament ausdrücklich verfügte, man müsse ihm, wenn er gestorben sei, Unterhosen anziehn. Er hätte in einem Nachtrag hinzusetzen sollen, daß man dem, der sie ihm anzieht, die Augen verbinde!
Daß Kyros seinen Kindern gebot, weder sie noch andere dürften seinen Körper, nachdem die Seele sich daraus gelöst habe, anblicken oder gar berühren, führe ich auf einen seiner frommen Einfälle zurück, denn es gehörte sowohl zu seinen als auch seines Geschichtsschreibers hervorstechenden Eigenschaften, der Religion ihr ganzes Leben lang besondere Pflege und Ehrerbietung angedeihn zu lassen.

Mir hat mißfallen, was ich von einem Fürsten über einen meiner Verwandten zu hören bekam, einen in Krieg und Frieden ziemlich bekannten Mann. Als dieser, so der Bericht, sehr alt schon und von äußersten Steinschmerzen geplagt, auf seinem Anwesen im Sterben lag, verwendete er all seine letzten Stunden darauf, mit verbißnem Eifer die Ehrenbezeigungen und Feierlichkeiten bei seinem Begräbnis festzulegen; und dem ganzen Adel, der ihn besuchte, forderte er das Versprechen ab, auch dem Leichenbegängnis beizuwohnen. Den Fürsten selber, der bei seinen letzten Zügen zugegen war, bat er dringlichst, alle Mitglieder seines Hauses zum Begräbnis zu befehlen, wobei er viele Gründe und Beispiele zum Beweis anführte, daß dies einem Mann wie ihm gebühre; und nachdem er diese Zusage erhalten und sämtliche Anordnungen für das Leichenbegängnis seiner Vorstellung entsprechend getroffen hatte, schien er zufrieden den Geist aufzugeben. Eine derart verbohrte Eitelkeit habe ich selten erlebt.

Ein absonderlicher Eifer entgegengesetzter Art, zu der es mir auch nicht an verwandtschaftlichen Beispielen fehlt, scheint mir mit der obigen verschwistert: im letzten Stündlein sich darüber zu erhitzen und den Kopf zu zerbrechen, wie man seinen Leichenzug ungewöhnlich knausrig gestalten könne, nur mit Lakai und Laterne. Ich sehe, daß man dergleichen Schrullen gar noch Beifall zollt, so etwa der Anordnung von Marcus Aemilius Lepidus, der seinen Erben verbot, für ihn die bei solchen Anlässen üblichen Feierlichkeiten zu veranstalten. Kann man es denn noch Mäßigung und Genügsamkeit nennen, wenn man Aufwendungen und Lustbarkeiten entsagt, deren Wahrnehmung und Genuß uns ohnehin verwehrt ist? Wahrhaftig eine bequeme Form der sittlichen Läuterung, und eine wohlfeile dazu!

Wenn es notwendig wäre, darüber eine Regel aufzustellen, würde ich raten, daß hier wie bei allen anderen Lebensentscheidungen jeder sich nach seinem Stand und Vermögen richte. Der Philosoph Lykon schrieb seinen Freunden klugerweise vor, ihn da zu begraben, wo sie es am besten fänden; das Leichenbegängnis aber sollten sie weder pompös noch ärmlich ausrichten.
Ich für mein Teil werde die Gestaltung dieser Feier voll und ganz dem Brauch überlassen und ihre Durchführung dem Ermessen der erstbesten anheimstellen, denen diese Bürde zufällt. All dies müssen wir für uns selber geringschätzen, für die Unseren aber dürfen wir es nicht vernachlässigen. Und ein Heiliger hat auf vollendete Weise gesagt: Leichenzug, Begräbnis und Trauerfeier sind mehr ein Trost für die Lebenden als eine Hilfe für die Toten. Darum erwiderte Sokrates in seiner Todesstunde dem Kriton auf die Frage, wie er begraben zu werden wünsche: »Wie immer ihr wollt.«

Wenn ich mich hiermit näher zu befassen hätte, fände ich es am lustigsten, es denen nachzumachen, die schon zu Lebzeiten und noch während sie bei Atem sind darangehn, die prachtvolle Anordnung ihrer Grabstätte und den Anblick ihres marmornen Abbilds zu genießen. Glücklich, wer es versteht, seine Gefühle am Fühllosen zu ergötzen und zu erbauen ­ und so vom eignen Tod zu leben!

(...)


(aus den "Essais" von Michel de Montaigne; 1533-1592)
aus dem Französischen von Hans Stilett)
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