Heimkehr in die
Fremde
Überraschend wie immer war sie von Wien nach Hause
zurückgekehrt. Von der glänzenden, unterhaltsamen und aufregenden Welt des
Westens war sie unvermittelt in den Osten geraten. Fremd fühlte sie sich im
Hause ihrer Väter. Mit einem müden Lächeln beobachtete sie den seltsam
gekleideten alten Mann, der ihr Vater war, beim Verrichten der Passah-Zeremonie.
Sie fand die Welt wieder, die sie als Kind verlassen hatte. Noch immer führte
Jehova sein Volk heraus aus Ägypten, und seit Generationen pilgerten sie durch
die Wüste dem versprochenen Gelobten Land entgegen. Ihr Vater wußte, daß seine
Tochter eine Spötterin und Ungläubige war. Er ahnte, daß ihr Weg ein anderer als
der seine war. Von Kindheit an hatte sie sich von den verbotenen Göttern
angezogen gefühlt. Sie liebte das Schöne, französische Romane, erotische Lyrik
und die Kunst der Renaissance.
Doch die Erinnerung an das Erbe der Väter und an ihre Kindheit im Ghetto verließen
sie nicht. Sie bemerkte, wie zufrieden Vater, Mutter und Geschwister waren.
Sie selbst würde nie solch eine Zufriedenheit empfinden können. Vergeblich suchte
sie nach der freudigen Erregung, die sie als Kind beim
Passah-Fest ergriffen hatte. Wie war es nur zu diesem Wunsch nach Emanzipation
gekommen? Das Leben ihrer Vorfahren im Ghetto war selbstbezogen und vollkommen
gewesen. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts waren sie als Vertriebene nach Venedig
gekommen. Man erlaubte ihnen, abgesondert im Ghetto, doch unter den Christen
zu leben. Sie hatten in sich die Ruhe des Ostens mit dem nervösen Eifer des
Westens verbunden. Diese Welt war für sie heute nur noch ein Schatten. Wenn
sie doch arm oder verfolgt gewesen wäre, dann hätte ihre Existenz wenigstens
einen Sinn. Sie fühlte sich alt und leer. Venedig war nicht
mehr als eine melancholische Ruine, und die Juden wohnten jetzt in den prächtigen
Palazzi untergegangener edler Geschlechter. Die Venezianer hatten wunderbare
Dinge im Laufe ihrer Geschichte geschaffen. Nun bewunderten die Touristen, was
von diesem Glanz übriggeblieben war.
Und die Juden? Sie
hatten nichts als ein paar Lieder für die Synagoge, doch sie waren stark. Sie
waren aus Fleisch und Blut und nicht aus Stein oder Bronze. Was war das
Geheimnis ihrer Stärke? Es war ihr festes Vertrauen auf Ihn, auf Ihren Gott. Wie
typisch war ihr Vater! Ein Modernisierer unter den Modernen außerhalb, ein
Gelehrter und Heiliger innerhalb des Hauses. Sie, seine Tochter, hatte keinen
Glauben. Ihre Seele war dem Orient, ihr Intellekt dem Okzident verhaftet. Ihr
Verstand war von der Wissenschaft genährt worden, die es verstand, alles zu
klassifizieren und nichts zu erklären. Vielleicht kam die Verzweiflung, die von
ihr Besitz ergriffen hatte, von dieser toten Stadt der Steine und des
Wassers.
Turgenjew hatte recht: Nur die Jungen sollten hierherkommen. Sie wußte nun,
was ihr fehlte. Sie hungerte nach Gott. Nach dem Gott ihrer Väter. Ihr fehlte
der Glaube, der die vergangenen Generationen miteinander verbunden hatte. Eine
Welt ohne Gott war kalt und verantwortungslos. In Wien gab es einen Juden, der
von einem jüdischen
Staat träumte. Aber der jüdische Staat würde nie kommen. Diese seltsame
Rasse konnte Städte für andere bauen, aber nicht für sich selbst. Ohne die Illusionen,
die das Leben ihres Vaters bestimmten, wollte sie nicht weiterleben. Sie stand
auf, ging zum Fenster und schaute hinaus in die Nacht. Sie sah den Mond über
dem Canal Grande, sah die Gondeln mit den Liebespaaren. Sie dachte an das Verliebtsein,
die Jugend und die Stärke, doch da war nur der schwache Widerhall eines längst
vergangenen Gefühls.
Sie sehnte sich nach dem Tod. Ein Leben ohne Gott schien ihr keinen
Moment länger ertragbar. Im schwarzen Wasser würde sie ihren Frieden finden. Sie
schlich durch die halboffene Tür und den Flur mit den antiken Statuen entlang.
Lautlos öffnete sie das Portal zum Wasser. Alles war friedlich. Sanft ließ sie
sich in den Kanal gleiten. Sie kämpfte zunächst mit dem Wasser, doch dann
besiegte sie ihren Lebenswillen.
Das war der negative Traum, der Margherita Grassini-Sarfatti ein Leben lang
verfolgte. Es war nicht ihre eigene Geschichte, sondern eine literarische Fiktion
über ihren Bruder. Niedergeschrieben hat sie Israel Zangwill, nachdem er in
den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Familie Grassini in Venedig besucht
hatte. Der Selbstmord als Lösung für das Dilemma des Juden im ausgehenden 19.
Jahrhundert ist die pessimistischste Lösung, die Israel Zangwill in seinen Geschichten
anzubieten hat. Das darin geschilderte Drama des heimgekehrten Sohnes läuft
darauf hinaus, für die Tradition verloren zu sein und die Moderne nicht leben
zu können. Er ist aus Ägypten ausgezogen und irrt ohne Ziel durch die Wüste.
Er weiß um die Verheißung vom Gelobten Land, doch der Weg dorthin ist ihm verstellt.
Margherita fürchtete dieses von
Zangwill geschilderte Drama ihr Leben lang. Es verfolgte sie wie ein Fluch. Die
Vätergeneration hatte das Ghetto verlassen und sich an dem Projekt "Nation"
beteiligt, das ihnen Teilhabe an der Zukunft verhieß. Sie hatten eine doppelte
Identität ausgebildet, waren Juden und Staatsbürger, Modernisierer und Bewahrer
der Tradition zugleich. Die von ihnen gewählte Teilhabe an der Geschichte
säkularisierte ihre Existenz. Die Väter und deren Väter sollten Menschen des 19.
Jahrhunderts sein. Ohne Zweifel am Vorhaben der Moderne hatten sie als
Fortschrittliche in der Politik und als Modernisierer in der Ökonomie mit den
Christen die Werte der bürgerlichen Welt durchgesetzt. Doch die Teilhabe am Sieg
des Fortschritts in Staat und Gesellschaft bedeutete, daß die Hoffnung auf
Erlösung in die Privatheit abgedrängt worden war. Ihre Söhne und Töchter werden
Menschen des 20. Jahrhunderts sein. Sie sind der Zukunft am nächsten und tragen
schwer an der Tradition. Das Erbe der Aufklärung hat sich verbraucht, und sie
können ihren Ursprung nicht begreifen. Mit Spott, Zynismus und Verzweiflung
betrachten sie den historischen Kompromiß ihrer Väter. Sie wollen sich ganz der
Geschichte verschreiben und das Kainsmal der kulturellen Immigration von ihrer
Stirn wischen.
Margherita Grassini-Sarfatti war die Jüngste in
einer Geschichte der Assimilation, die an ihr Ende gekommen war. Auch wenn ihre
individuelle Assimilation geglückt war, blieb sie doch Teil eines Kollektivs,
das seine Differenz zur Nation auszeichnete. Margherita wollte alles sein und
wurde von der Furcht verfolgt, nichts zu sein. Die Entdeckung des Politischen
wurde zum zentralen Gegenstand ihrer Abkehr von der Religion. Es war eine
Politik, die sie als Elite bestätigte und im Kollektiv versteckte, eine Politik,
die Terror anwandte, um ihre Prophezeiungen zu verwirklichen, eine Politik, die
Erlösung durch Geschichte versprach. Margherita Grassini-Sarfatti wählte nicht
den Tod, sondern den Faschismus.
(Aus "Die Geliebte des
Duce. Das Leben der Margherita Sarfatti
und die Erfindung des
Faschismus" von Karin Wieland.)
Sie machte aus Mussolini den Duce und verlieh dem Faschismus
ästhetischen Glanz: Margherita Sarfatti. Die wohlhabende Jüdin verliebte sich in
den jungen Mussolini und wurde seine geheime Geliebte. Erst ihrem Einfluss
verdankte er seine Verwandlung in den charismatischen Duce. Das dramatische
Leben einer fast vergessenen Frau.
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