Luther

Die deutsche Bibel

Luther wurde 1483 in Eisleben als Sohn eines herrischen Vaters geboren. Er verbrachte seine Jugend mißmutig, störrisch, verprügelt, und richtete schon früh sein Auge von der Misere außen nach innen. Sein Vater hat ihn hart geschlagen: daß er wie ein Stein oder ein Stück Holz schien. Aber hinter der harten Schale verbarg sich ein weicher und süßer Kern. Sein: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!" wird immer ein Fanfarenruf aller aufrechten Männer sein. Sein Reformationswerk war eine historische Notwendigkeit. Aber die Historie wandelt sich von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Bismarcks Werk schien auf Felsen gegründet: wenige Jahrzehnte genügten, es zu unterhöhlen, bis es 1918 mit einem gewaltigen Krach zusammenstürzte. Auch über Luthers Reformation ist das letzte Urteil von der Geschichte noch nicht gefällt. Unsere heutige evangelische Kirche spricht in ihrer aufklärerischen, kahlen, gottlosen Nüchternheit nicht für eine lange Dauer. Die Zeit will wieder fromm werden. Luther war ein religiöser Mensch, die Lutheraner sind theologische Dogmatiker oder rationalistische Moralisten. Sie bezweifeln das Wunder, wollen Natur- und Kirchengeschichte unter denselben Pfaffenhut bringen: aber wer das Wunder bezweifelt, bezweifelt Gott selbst. Luther hat die damalige Christenheit, unterstützt von der humanistischen Vorrevolution des Geistes, von der römischen Knechtschaft befreit, aber er hat den Deutschen den schlechtesten Dienst erwiesen, als er in den Bauernkriegen Partei für die Fürsten ergriff und durch seine sophistische Auslegung der Bibel im monarchistischen Sinne ("Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist ... es ist euch eine Obrigkeit gesetzt von Gott, der sollt ihr untertan sein ...") die Deutschen unter die absolute Tyrannei der Fürsten brachte und Tyrannei und Sklaverei nun gar noch ethisch zu fundieren trachtete. Hier trieb der einst in seiner Jugend vom Vater in ihm gezüchtete und herangeprügelte Autoritätswahn häßliche Blüten. Daß der "Untertan" den Deutschen noch heute so tief im Blute steckt, daß selbst die Revolution 1918 ihn nicht auszuroden vermochte, das ist nicht zum wenigsten auf die Philosophen des Staatsrechts und des Machtwahns: Bismarck, Hegel, Luther zurückzuführen. Luther aber war ihr bedeutendster und also verderblichster Vertreter. Erscheint seine historische Stellung in mindestens zweifelhaftem Lichte, so ist seine Stellung in der deutschen Literatur eindeutig fest und steil gefügt. Die Bedeutung der Lutherschen, 1534 vollendeten Bibelübersetzung kann nicht überschätzt werden. Es ist, als hätte Luther die neue deutsche Sprache überhaupt erst geschaffen. Aus so mangelhaften Vorlagen wie der sächsischen Kanzleisprache und der obersächsischen Mundart zimmerte er wie ein Geigenbauer jenes klingende Instrument, auf dem entzückt und berauscht wir heute noch spielen dürfen.

Er aber war der Töne Meister wie Arion: und wenn er sprach, dann schwieg die Nachtigall, dann hob der Esel lauschend den behaarten Kopf - dann verstummten selbst die Humanisten mit ihrem lateinischen Geplaudere, und Ulrich von Hutten konnte auf einmal deutsch statt lateinisch denken und dichten. "Ich hab's gewagt". Die deutsche Sprache war den gelehrten Herren bisher zu grobschlächtig gewesen für ihre Spitzfindigkeiten. Sie wollten nichts mit dem Pöbel gemein haben, und es war ihnen gerade recht, dass man sie in der Menge nicht verstand. Nun aber hörten sie erstaunt, gleichsam zum erstenmal, den Klang der deutschen Sprache. Das war wie Möwenschrei über der Elbe, wie Amselsang im Frühling, wie Herbstwind in den Sandsteinfelsen, wie Quellengeriesel im Eichenwald. Und einer nach dem andern tat sein in Schweinsleder gebundenes lateinisches und griechisches Lexikon in den Bücherschrank zurück und legte die Luthersche Bibel auf den Schreibtisch und fand darin sein Morgen- und Abendgebet. Auch Luthers Flugschriften, wie "Von der Freiheit eines Christenmenschen", flogen durch das Land, und in Kirchen und auf Straßen sang es: "Komm, heiliger Geist, kehr bei uns ein". Und sie, die tumben Bauern, die im Vertrauen auf seine Lehre und ihren Lehrer sie in die Tat umzusetzen versuchten (denn was ist die Idee ohne die Tat? Das ist wie Seele ohne Leib, wie Duft ohne Blume): sie starben, als sie von ihm verlassen wurden, hingeschlachtet von den Schwerthieben der Söldner mit dem Ruf: "Ein feste Burg ist unser Gott ..." Luthers kernige und fröhliche Tischreden, die von seinen Freunden aufgezeichnet wurden, beweisen, was für ein großer Redner er war. Er steckte damit wohl alle heutigen Volkstribunen in die Tasche: nur schade, daß er selber kein Volks-, sondern ein Fürstentribun war.


(Aus: "Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde" von Klabund)