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Nun könntest du noch einwenden: mit Verlaub, Herr, ihr geht bei allem davon aus, daß es einmal dazu kommen solle, daß diese Geburt geschieht, daß in mir der Sohn geboren werde. Nun denn, könnte ich ein Zeichen davon haben, woran ich erkennen könnte, daß es (wirklich) geschehen sei?
Gewiß doch, drei wahre Zeichen gibt es wohl! Eines davon will ich jetzt angeben. Man fragt mich oft, ob der Mensch dazu kommen kann, daß ihn in der Zeit weder Vielheit noch Materie hindern. Ja, bei der Wahrheit! Wenn diese Geburt wirklich geschieht, können dich alle Geschöpfe nicht hindern, sondern sie weisen dich alle zu Gott und zu dieser Geburt. Dafür finden wir ein Gleichnis im Blitzschlag. Was immer es sei, das er trifft, wenn er einschlägt, es sei Baum, Tier oder Mensch, das wendet er mit dem Schlag zu sich hin. Und hätte ein Mensch (ihm) den Rücken gekehrt, sofort wirft er ihn mit dem Antlitz herum. Hätte ein Baum tausend Blätter, sie alle kehrten sich mit der rechten Seite dem Schlage zu. Sieh, so geschieht es auch all denen, die von dieser Geburt betroffen werden: sie werden blitzschnell zu dieser Geburt gewendet, und zwar in allem was gerade gegenwärtig ist, wie schlicht es auch sein mag. Ja, was dir vorher ein Hindernis war, das fördert dich nun allesamt. Das Antlitz wird ganz dieser Geburt zugewandt. Ja, alles, was du siehst und hörst, was immer das sei, du kannst in allen Dingen nichts anderes empfangen als diese Geburt. Ja, alle Dinge werden lauter Gott, denn in allen Dingen sinnst du nichts als lauter Gott. Genauso, wie wenn ein Mensch lange die Sonne ansähe; was er danach ansähe, da hinein schiene die Sonne. Wo dir dies mangelt, daß du in allem und jedem Gott sinnst und suchst, da mangelt dir diese Geburt.

Nun könntest du (noch) fragen: soll der Mensch, der in diesem Zustand ist, sich nicht in Werken der Buße üben, oder versäumt er nicht etwas, wenn er sich nicht darin übt?
Merke folgendes: Alles Bußleben ist unter anderem deshalb erfunden - es sei Fasten, Wachen, Beten, Knien, Kasteiung, härene Hemden tragen, hart Liegen oder dergleichen - das alles ist darum erdacht, weil der Körper und das Fleisch sich zu jeder Zeit gegen den Körper stellen. Der Leib ist für ihn oft zu stark, geradezu Kampf und ewiger Streit ist in ihnen. Der Leib ist hier kühn und stark, denn er ist hier daheim, die Welt hilft ihm, die Erde ist sein Vaterland, alle seine Verwandten helfen ihm hier: die Speise, der Trank, das Wohlleben: all das ist gegen den Geist. Der Geist ist hier in der Fremde, alle seine Verwandten und sein Geschlecht sind nämlich im Himmel: dort findet er gar wohl Freunde, wenn er sich dorthin richtet und dort heimisch macht. Um also dem Geist in dieser Fremde zu Hilfe zu kommen und das Fleisch in diesem Streite etwas zu schwächen, damit es nicht über den Geist siege, darum legt man ihm den Zaum der Bußübungen an und darum unterdrückt man ihn, damit sich der Geist seiner erwehren kann.
Wenn man ihm also dies antut, um ihn gefangen zu halten: willst du ihn tausendmal besser fangen und (mit Ketten) beladen, so lege ihm den Zaum der Liebe an. Mit der Liebe überwindest du ihn am wirsamsten und mit der Liebe kettest du ihn am stärksten. Und darum lauert uns Gott mit nichts so sehr auf wie mit der Liebe. Denn mit der Liebe ist es wie mit der Angelrute des Fischers. Der Fischer kann den Fisch nicht fangen, wenn er nicht an der Angel hängt. Hat er den Angelhaken geschnappt, dann ist der Fischer des Fisches sicher; mag sich der Fisch noch so hin und her wenden, wohin auch immer, der Fischer bleibt seiner ganz sicher. In diesem Sinn rede ich von der Liebe: wer von ihr gefangen wird, der trägt die stärkste Fessel und doch eine süße Last. Wer diese süße Last auf sich genommen hat, der erreicht mehr und kommt damit weiter als mit aller Bußübung und Askese, die alle Menschen (je) üben könnten. Er kann auch heiter all das leiden und ertragen, was ihn anfällt und Gott über ihn verhängt, und er kann auch gütig alles vergeben, was man ihm Übles antut. Nichts macht dich Gott so zu eigen, noch dir Gott so zu eigen wie dieses süße Band. Wer diesen Weg gefunden hat, der such keinen andern. Wer an dieser Angel haftet, der ist so gefangen, daß alles Gottes Eigentum sein muß: der Fuß und die Hand, der Mund, die Augen und das Herz und alles, was (sonst) am Menschen ist. Und darum kannst du diesen Feind ohne Schaden nicht besser überwinden als durch die Liebe. Deshalb steht geschrieben: stark wie der Tod ist die Liebe, hart wie die Hölle (HL 8,6). Der Tod scheidet die Seele vom Leib, aber die Liebe scheidet alle Dinge von der Seele. Was nicht Gott oder göttlich ist, das duldet sie auf keinen Fall. Wer in dieser Fessel gebunden ist und auf diesem Weg geht, was immer dieser an Werken tut oder läßt, das wirkt die Liebe; dem ist es gleich, ob er wirkt oder nicht wirkt, daran ist ganz und gar nichts gelegen. Dennoch ist eines solchen Menschen geringstes Werk oder Übung für ihn selbst und alle Menschen nützlicher und fruchtbringender und Gott lieber als aller Menschen Übung, die zwar ohne Todsünde sind, aber die geringere Liebe haben. Seine Ruhe ist wirksamer als eines anderen Wirken. Darum suche allein diese Angel, dann wirst du liebevoll gefangen, und um so mehr gefangen, um so mehr befreit.
Daß wir so gefangen und befreit werden, dazu helfe uns der,
der selbst die Liebe ist. Amen.


 

(aus Meister Eckharts Predigt über das Lukasevangelium 2,42
aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt von Dietmar Mieth;
Patmos Verlag 2002
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