Der Mensch ist ein visuelles Tier. Etwa die Hälfte der Fasern, die Empfindungen an unser Gehirn leiten, stammen von den Sehnerven. Wir leben in einer Welt, die sich fast ausschließlich durch das Sehen orientiert, und wir suchen Nahrung, Geschlechtsverkehr und Unterkunft mit Hilfe von Informationen, die durch unsere Netzhautbilder geliefert werden.

Die Bedeutung des Geruchssinns, der das Leben der meisten unserer Wirbeltiervorfahren bestimmte, ist derart geschrumpft, dass er kaum noch zu unserem Geschlechtsleben und Überleben beiträgt, und abgesehen von einem geringen ästhetischen Vergnügen - in erster Linie beim Essen - wenig zu bieten hat, und selbst dann vermag er uns meist nicht zu verraten, ob das Essen, das wir zu uns nehmen, giftig ist und warnt uns nur, wenn es durch Verfall ungenießbar geworden ist. Der Hörsinn hat in unserer Entwicklungsgeschichte nie eine herausragende Rolle gespielt.

Er bildete sich bei unseren im Wasser lebenden Ahnen als Verfeinerung des Gleichgewichtsorgans heraus; dieses teilte ihnen mit, ob sie sich in der richtigen Lage befanden und ob sie sich bewegten, aber seine Bedeutung ging mit dem Auftauchen des Menschen zurück, da unsere Augen sich zum größten Teil seiner Funktion bemächtigten. Anfänglich half der Hörsinn unseren Wirbeltiervorfahren bei der Partnersuche; später wurde er auch eingesetzt, um Alarm zu schlagen und gelegentlich, um das Territorium zu verteidigen. Durch die Evolution hindurch blieb er ein Mittel der Kommunikation, und für die Einschätzung der äußeren Welt ist er für uns heute fast nur indirekt von Bedeutung, wenn wir nämlich auf den Bericht eines besser sehenden Begleiters zurückgreifen müssen.

So wie die Evolution des Steinzeitmenschen eine allmähliche Dominanz des Gesichtssinns gegenüber den anderen Sinnen mit sich brachte, ereignete sich in der Folge ein Richtungswechsel in unserer Entwicklungsgeschichte, der von noch größerer Tragweite war, fast ebenso einschneidend wie das Auftauchen des organischen Lebens selbst; denn in dieser letzten Phase haben wir gelernt, wie man das Wissen, das jede neue Generation erwirbt, außerhalb des Individuums speichert und so ein stetig anwachsendes Lager zum Erbe für die Nachfolger anlegt. Diese jüngste Superevolution des Menschen wurde zum größten Teil dadurch ermöglicht, dass man die Abstraktion von Ideen und Vorstellungen entdeckte, die dann mündlich oder bildlich weitergegeben werden konnten, in der Form von Darstellungen oder schematisch als geschriebene Sprache.

Aber in unseren neuen symbolbeherrschten Landen, die weit jenseits von Eden liegen, ist es nicht nur die Weisheit der Welt, die sich ansammelt: Jeder von Menschen geschaffene und der Nachwelt hinterlassene Eindruck birgt auch ein Abbild der Persönlichkeit seines Schöpfers. Und durch eine Studie einiger dieser Eindrücke in unserer Literatur und Kunst können wir zuweilen über die Informationen hinausblicken, deren Vermittlung beabsichtigt war; indem sie uns etwas über den jeweiligen Urheber sagen, können sie vielleicht auch eine veränderte oder behinderte Wahrnehmung der von ihm dargestellten Welt andeuten.

Denn unterhalb unseres visuellen Selbst, sogar unter dem alten Adam, liegt das Selbst des Säugetiers und seiner Vorfahren, das fühlt und riecht und intuitiv oder instinktiv wahrnimmt. Wenn die dominierenden Augen stumpf werden, kehren diese "älteren" Sinne als Gebieter zurück und eine neue Persönlichkeit entsteht.

Dies also ist die Bürde der folgenden Kapitel. Das Sehvermögen kann auf vielerlei Arten abgestumpft sein; das Netzhautbild kann bei bestimmten Entfernungen verzerrt oder verschwommen sein, unsere Farbwerte können schief liegen oder es mit der Zeit tun, unsere Augen können aufhören, in Einklang miteinander zu arbeiten oder unser Gesichtsfeld kann schrumpfen, und schließlich kann das Augenlicht völlig verlorengehen.

Die Persönlichkeitsveränderungen, die einer solchen Abstumpfung des Sehvermögens folgen, sind subtil und komplex; und ihre psychologische Beurteilung wäre in jedem Fall fragwürdig, da zu viel von Haltung und Erfahrung des Beobachters abhinge. Im Ausdruck der Persönlichkeit nach außen jedoch, wie sie sich in ihrem Schreiben und Malen niederschlägt, haben wir zumindest eine Projektion, die eine objektive Analyse zulässt, die zudem nicht nur für Persönlichkeiten in unserer Reichweite gilt, sondern sich geschichtlich bis zu den Tagen zurück erstreckt, als das Kunstschaffen begann und die ersten Balladen gesungen wurden.

Es muss betont werden, dass der Einfluss irgendeines dieser physischen oder physiologischen Faktoren auf das Wesen unserer Künste, wenn überhaupt vorhanden, fast zwangsläufig von geringer Bedeutung ist und außerhalb naturalistischer Malerei und Dichtung selten zutrifft. In der abschließenden Analyse sollten aber selbst diese kleinsten Faktoren nicht übersehen werden. (...)


(Aus "Der veränderte Blick" von Patrick Trevor-Roper.
Übersetzt von Annette Brausch.)

Über den Einfluss von Sehfehlern auf Kunst und Charakter.
Hat eingeschränktes Sehen Auswirkungen auf die Bildsprache und Farbsymbolik von Dichtern? Goethe zum Beispiel trug seine Brille selten, obwohl er stark kurzsichtig war, James Joyce musste zahlreiche Augenoperationen über sich ergehen lassen. Kann man John Constables Vorliebe für herbstliche Töne als Ergebnis seiner Farbenblindheit werten? Welchen Einfluss haben psychische Erkrankungen auf die Sichtweise und Sehgewohnheiten?
Dem Augenarzt und Kunstkenner Patrick Trevor-Roper gelingt es, diese in der Fachwelt diskutierten Zusammenhänge samt ihren physiologischen Grundlagen für eine größere Leserschaft einleuchtend darzustellen und im wahrsten Sinne des Wortes anschaulich zu machen.
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