Stefan Zweig: "Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt"

Dieses Werk gilt als vertiefende Fortführung von "Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam"


Ein Stück dunkelster europäischer Geistesgeschichte

Stefan Zweig wurde am 18.11.1881 in Wien geboren. Studium der Philosophie, Germanistik und Romanistik in Berlin und Wien mit Promotion. Er arbeitete als Schriftsteller in Österreich, emigrierte 1938 nach London, danach New York und schließlich nach Brasilien, wo er am 22.02.1942 zusammen mit seiner Frau Selbstmord beging.

Im frühen 16. Jahrhundert verbreiten sich in weiten Teilen Europas die auf Luther zurückgehenden reformatorischen Ideen. Doch diese Ansätze rütteln an den Grundfesten des katholischen Imperiums, und so schlägt dieses auch prompt zurück und legt eine Gegenreformation auf, vor der man sich als Mensch mit protestantischem Gedankengut besser in Sicherheit zu bringen hat. In diesem geistigen Klima fordert ein reformierter Theologe namens Calvin im katholischen Frankreich auch vergeblich theologische Toleranz ein und flüchtet schließlich ins protestantische Genf. So weit, so gut.
Man würde nun erwarten, dass dieser Calvin, aus eigener Anschauung gespeist, in Genf ein Paradies religiöser Toleranz einrichten werde, doch weit gefehlt. Er deklariert seine Bibelauslegung als die einzig richtige und verfolgt erbarmungslos alle, die es wagten, auch nur ein Komma in seiner Konstruktion verändern zu wollen.

Da kommt ein spanischer Heißsporn mit Namen Miguel Servet des Weges und versucht Calvin in zwei Punkten zu beweisen, dass dieser die Schrift falsch auslege. Ohne auch nur den Hauch einer Chance gehabt zu haben, wird Servet am 27. Oktober 1553 auf "kleiner Flamme" und bei lebendigem Leibe verbrannt.

Sebastian Castellio, ein überaus gebildeter Humanist und Professor der Baseler Universität, erhebt sich und stellt fest: "Einen Menschen verbrennen heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern: einen Menschen töten."
In zwei brillanten Streitschriften führt er die schiere Unmenschlichkeit Calvins vor Augen. Dieser bietet jedoch im Gegenzug alles auf, um Castellio unschädlich zu machen. Doch bevor er Castellios schließlich habhaft werden kann, stirbt dieser an Körper und Geist entkräftet am 29. Dezember 1563.

Die ganze Geschichte ist hoch dramatisch, und man fühlt 450 Jahre später Zorn in sich aufsteigen, wenn man sich diese Vorfälle noch einmal vor Augen führt. Calvin war ein Monstrum im Priesterkleid und stellte selbst einen Roberto Bellarmin in den Schatten, welcher im Februar des Jahres 1600 Giordano Bruno anzünden ließ.

Als Stefan Zweig 1936 diese Geschichte zu Papier brachte, trieb ein anderes Monstrum in Europa sein Unwesen. Und so schrieb Zweig eine Doppelgeschichte, ohne dass das aktuelle Monstrum auch nur erwähnt wurde. Aber wenn man Zweigs Biografie kennt, so wird deutlich, dass sich hinter dieser gespenstigen Szenerie der Gasmann abzeichnete, wie ihn Günter Grass bezeichnete: Hitler.

Und über beiden Szenarien schwebt die aus Fassungslosigkeit geborene Frage: Wie konnte das alles passieren?

Aber Stefan Zweig formuliert in der Einleitung auch eine Regel politischen Miteinanders: "Diese immer wieder notwendige Abgrenzung zwischen Freiheit und Autorität bleibt keinem Volke, keiner Zeit und keinem denkenden Menschen erspart: denn Freiheit ist nicht möglich ohne Autorität (sonst wird sie zum Chaos) und Autorität nicht ohne Freiheit (sonst wird sie zur Tyrannei)."

Und auch diese Feststellung gilt gleichermaßen für die Mechanismen zu Zeiten Calvins und Hitlers: "Diese messianische Sehnsucht nach einer Entproblematisierung des Daseins bildet das eigentliche Ferment, das allen sozialen und religiösen Propheten die Wege ebnet."

(Klaus Prinz; 02/2005)


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Buchtipps:

Hans Rudolf Guggisberg: "Sebastian Castellio 1515 - 1563: Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz im konfessionellen Zeitalter"
(Vandenhoeck & Ruprecht)
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Stefan Zweig: "Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam"

Eine "verschleierte Selbstdarstellung" hat Stefan Zweig sein Erasmus-Buch genannt, mit dem er "Größe und Grenzen des Humanismus" aufzeigt -Triumph und Tragik eines großen, aber zur Tat nicht entschlossenen Denkers, Erasmus von Rotterdam, "der erste bewusste Europäer, der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des weit- und geistesfreundlichen Ideals", wurde durch seine Kritik an der Theologie und der Kirche zum Wegbereiter der Reformation. Doch er förderte sie nicht, distanzierte sich vielmehr mit seiner eigenen Ansicht über den freien Willen des Menschen von Luthers Meinung. Er riet, als Kurfürst Friedrich ihn im Glaubensstreit zwischen Luther und dem Papst um sein Votum bat, bei deutlicher Sympathie für die Erneuerung der Kirche, "angesehene und unverdächtige Richter" einzusetzen. Erasmus wollte und konnte seine eigene Meinung, vielleicht aus Furcht vor Verantwortung, nicht ausschlaggebend werden lassen. Der wohl berühmteste und gelehrteste Mensch seiner Zeit zog sich so in sich selbst zurück. Denn "der freie, der unabhängige Geist, der sich keinem Dogma bindet und für keine Partei entscheiden will, hat nirgends eine Heimstatt auf Erden". (S. Fischer)
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Laurent Seksik: "Vorgefühl der nahen Nacht"
Im September 1940 kommt Stefan Zweig mit seiner zweiten Ehefrau, der dreißig Jahre jüngeren Lotte Altmann, nach Brasilien. Mit seiner ethnischen Buntheit ist dieses Land für ihn ein Gegenentwurf zum in Europa herrschenden Rassenwahn.
Voller Hoffnung quartiert er sich nördlich von Rio ein. Auch seine Frau knüpft an Brasilien große Erwartungen. Sie werden herzlich aufgenommen, sie werden gefeiert und sie feiern mit - sogar im Karneval. Die Farben leuchten, das Klima lässt Lotte aufleben, und in Ernst Feder, dem früheren Chefredakteur des "Berliner Tageblatts", gewinnen sie einen unterhaltsam ironischen Freund.
Doch Stefan Zweig ist nicht nur auf der Flucht vor den Nazis. Er flieht auch vor den Gespenstern, die ihm nachts den Schlaf rauben - die Schatten seiner toten Freunde, allen voran Joseph Roth. So fällt es ihm schwer, seiner Frau die Gefühle zu zeigen, die sie ersehnt. Umgekehrt will sie lange das Ausmaß seiner Verzweiflung nicht wahrhaben. Eine der großen Tragödien der Weltliteratur nimmt ihren Lauf ...
Laurent Seksik, 1962 in Nizza geboren, studierte Medizin und war zunächst im Bereich Nuklearmedizin beschäftigt. Schon sein erster Roman ("Les mauvaises pensées", 1999) wurde in zwölf Sprachen übersetzt. Er war einige Jahre Literaturchef von "Figaro Etudiant". Heute arbeitet er in Paris an der Universität halbtags als Mediziner. "Vorgefühl der nahen Nacht" ist sein vierter Roman und markiert seinen Durchbruch in Frankreich.

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Thomas Eicher (Hrsg.): "Stefan Zweig im Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts"
Dass Stefan Zweig ein politischer Autor gewesen wäre, lässt sich beim besten Willen nicht behaupten. Zum Tagesgeschehen wollte er sich nur selten äußern. Und doch ist sein Name verbunden mit Konzilianz, Humanität, Pazifismus, Toleranz und Völkerverständigung, Idealen also, die sein Werk in ein spezifisches Verhältnis zum Zeitgeschehen setzen. Der vorliegende Band soll vor allem die Beziehung zwischen den Texten des renommierten Autors, der Welt, die sie abbilden und den verschiedenen Rezeptionshorizonten des 20. Jahrhunderts beleuchten. Dabei stehen neben Zweigs Verhältnis zur Politik die zeitgeschichtlichen Dimensionen seines Schaffens sowie die Art und Weise, in der gesellschaftliche Rahmenbedingungen ihre Aufnahme beim Publikum beeinflussen, im Vordergrund.
Die Beiträge:
Knut Beck: Politik - die wichtigste Sache im Leben? Stefan Zweigs Haltung zum Zeitgeschehen
Hans-Albrecht Koch: Ästhetischer Widerstand oder politischer Eskapismus? Vom Erasmus-Buch zur Schachnovelle
Gert Kerschbaumer: Der Festspieldichter Stefan Zweig
Rüdiger Görner: Schweigsame Dissonanzen. Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Richard Strauss und Stefan Zweig
Mark H. Gelber: Wandlungen in Stefan Zweigs Verhältnis zum Zionismus
Gabriella Rovagnati: Mussolinis "reaktionäre und ahistorische Politik": Stefan Zweig und der italienische Faschismus
Ingrid Schwamborn: Stefan Zweigs ungeschriebenes Buch Getúlio Vargas
Bernd Hamacher: Das Verschwinden des Individuums in der Politik. Erasmus, Luther und Calvin bei Stefan Zweig und Thomas Mann
Thomas Eicher: Der Kriegsheimkehrer als Verbrecher: Stefan Zweigs Rausch der Verwandlung und Hugo Bettauers Hemmungslos
Fritz Hackert: Stefan Zweigs Universum. Die Wunder von Geschichts- und Lebenswelt der Sternstunden
Matjaz Birk: Stefan Zweigs Humanitätsgedanke während des Ersten Weltkriegs und seine Fiktionalisierung in der Novellistik
Gerhard Rademacher: Absolution für einen Königsmörder? Zu Stefan Zweigs Joseph Fouché
Leopold Decloedt: Stefan Zweig im Spiegel der Wiener Presse der dreißiger Jahre
Michel Reffet: Stefan Zweigs historische Biografien und die Gegner der "bürgerlichen Literatur"
Mariana-Virginia Lazarescu: Zur Rezeption Stefan Zweigs im Wandel der politischen Verhältnisse in Rumänien
Vladimir Vertlib: Der doppelte Bruch. (Athena)
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