Wolf Wondratschek: "Einer von der Straße"


Trivialer Antibildungsroman

Man nannte ihn den "Rock- und Schock-Poeten" (Michael Kohtes) in den 1960er und 70er Jahren - neben Rolf Brinkmann hatte Deutschland also auch so ein Beat-Genie wir Brautigan oder Ginsberg. Wolf Wondratschek (Jg. 1943) konnte dem Anspruch anfangs noch genügen, als er Prosa schrieb mit Titeln wie "Früher begann der Tag noch mit einer Schusswunde" oder bei 2001 seine Kult-Lyrikbände veröffentlichen durfte. Wondratschek war einmal der literarische Star der Frankfurter Studentenbewegung, er schrieb schon immer gerne in unverblümter Sprache, fand das Bürgertum und den Vietnamkrieg "Scheiße" (Zitat) und provozierte 1986 mit dem Titel "Carmen oder Ich bin das Arschloch der achtziger Jahre". Allerdings mündete seine Sucht nach Authentizität im Trivialen. Sein Rückzug auf die längere Prosa hat ihm nicht gutgetan. Nachdem die Subkultur z.T. im Trüben verkümmerte, z.T. vermarktet wurde, wandelte sich Wondratschek zum "melancholischen Bohémien" (Werner Olles). Hatte er für das Hörspiel noch innovative Formen gefunden, verrannte er sich in der Prosa im Mann-Frau-Beziehungsdschungel.

Man sagte zum vorliegenden Buch, seinem Romanerstling - vor 15 Jahren erstmals erschienen, ein Mann habe ihm seine Lebensgeschichte erzählt und Wondratschek habe sie einfach hingetippt: "die klischeestrotzende Erfolgsgeschichte eines Münchner Rotlicht-Millionärs" (Kohtes). Ein Junge, Gustav Berger, dessen Eltern sich getrennt haben, wächst im Nachkriegs-Deutschland auf, er schwänzt die Schule, klaut und verkauft die Sachen wieder, macht sich früh einen Namen auf der Straße, landet im Erziehungsheim. Es ist die Zeit des Rock’n’Roll, und er nennt sich Johnny. Dann im Gefängnis beginnt sein unaufhaltsamer Aufstieg - und Wondratschek schreibt so, dass man mit diesem Kriminellen - für den Frauen und Geld die gleiche Währung darstellen - sogar noch Sympathie empfinden soll. Ein Roman über Gewalt und Zärtlichkeit, Hass und Liebe, eine lakonische Chronik eines Lebens auf der eingebildeten Überholspur.

Johnny bleibt nach vier Jahren Knast ein Rastloser, dem bewusst wird, was für Geld zu haben ist und was nicht. Erst am Ende findet er in Amerika die Frau, die sein Leben ändert. Es ist dies also die authentische Lebensgeschichte eines Unterweltbosses, der nach dem Krieg durch Schiebergeschäfte reich wurde, zum Paten des Rotlicht-Milieus aufstieg und von der Kultur-Schickeria bewundert wurde. Er hat alles für ihn Notwendige auf der Straße und im Gefängnis gelernt und wird zur lebenden Legende. Mit einem Schulzeugnis, "das bis auf Rechnen und Sport ungenügend war" (Zitat Roman), wird Gustav ins Leben entlassen, nachdem er einigen Lehrern Prügel angedroht hatte - "im Bahnhofsviertel lernte er schnell auch alles andere" (ebd.).

Und so lässt sich das vorliegende Buch als Anti-Bildungsroman lesen: eingestuft als "schwer erziehbar" sieht sich Gustav selbst als "hoffnungsloser Fall" (ebd.). Er unternimmt dann aber doch "Die Arbeit, am Leben zu bleiben" (Drittes Buch) - muss dennoch begreifen: "Glück ist ein Raubtier" (Viertes Buch). Kurz vor Ende kommt der Erzähler zu einem Pauschalurteil: "Er kannte die Welt aus allen Perspektiven, von unten bis oben, kannte sie bei Tag und Nacht, kannte ihre Fassaden und Heimlichkeiten, ihre Armut und ihren Reichtum, er kannte die Dunkelheit einer Einzelzelle und Sonnenuntergänge über allen Meeren; nur kannte er nicht die Qual, sich darüber den Kopf zu zerbrechen" (ebd.). Sicherlich hätte man aber von einem wie Wondratschek, der einmal ein Hoffnungsträger der deutschen Literatur war, mehr Kopfarbeit erwarten dürfen. Der Roman ist im Szene-Jargon geschrieben - keine große Literatur im seriösen Sinn, v.a. weil eine reflektierende Ebene völlig fehlt. Eine Lektüre für Leute mit einem Faible für Probleme - aber ohne jeglichen intellektuellen Anspruch. Die Frage muss gestattet sein: für welche Art Leser diese Trivialschmonzette so interessant sein sollte, dass man nach 15 Jahren noch einmal diese Taschenbuchedition riskierte?!

(KS; 02/2006)


Wolf Wondratschek: "Einer von der Straße"
dtv, 2006. 576 Seiten.
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