Wang Shuo: "Oberchaoten"


Hiermit wird einer der ganz großen Stars der chinesischen Literaturszene vorgestellt: Seit Mitte der Achtziger Jahre läuft Wangs Kunstproduktion, spaltet die Literaturkritik in Befürworter und Gegner und hat sich längst eine irgendwo zwischen Millionen und Milliarden liegende große Leserschaft gefunden.
Wobei das Literaturkritikspalten und erst recht das "Bestsellen" Absicht sein dürften, bedient sich der Autor doch allzugerne zahlreicher Stilbrüche, schreibt er doch mit Vorliebe über Stadtstreicher und eine unidealistische, aber auf ihre Art zufriedene Jugend, und versetzt er doch uralten chinesischen Tugenden wie Höflichkeit, Respekt und Dezenz mit sichtlichem Vergnügen manch wohl- und auch die eine oder andere bewusst schlechtgezielte Ohrfeige.

Auch in den "Oberchaoten" liefert er, was die literarische Qualität betrifft, zwei sehr unterschiedliche Teile. Der erste Teil beginnt mit der Firma "3 TD", deren Existenz durch den liberalen Wirtschaftskurs der Regierung ermöglicht wurde. "3 TD" ist die Abkürzung von '3 tolle Dienstleistungen': Wir lösen ihre Probleme, wir vertreiben ihre Langeweile, wir stehen ein für ihre Fehler. Das ganze läuft mit dem Ziel, dem Mangel an sozialen Dienstleistungen abzuhelfen, die Tätigkeiten reichen vom Organisieren von Literaturpreisvergaben nebst erstem Preis für den Auftraggeber, einen Möchtegern-Schriftsteller, bis hin zum Einspringen für feige Liebhaber, feig, weil sie der Freundin nicht selber sagen wollen, dass die Sache aus ist. Indem Wang nun die Mitarbeiter der Firma beim Arbeiten zeigt, gelingt es ihm sehr gut, anhand der skurrilen Situationen den Zeitgeist und das Lebensgefühl der neuen Generation (der Firmensitz ist übrigens in Peking) einzufangen, beziehungsweise dadurch, dass die Leute den Aberwitz ihres Tuns mit psychischer Leichtigkeit und einer Menge flotter Sprüche (das "Neudeutsche" der Übersetzung mag einen Österreicher bisweilen schmerzlich berühren, aber irgendwie muss der Peking-Jargon schließlich wiedergegeben werden) begleiten, ebendiesen Zeitgeist mitzuprägen und eine Jugend darzustellen, wie sie selbst gerne sein möchte; respektlos, erfinderisch, cool, und mit Kumpelhaftigkeit als höchstem Wert.

Kann man diesem ersten Teil bei all seinen amüsanten Szenen und der frechen Milieuschilderung den Vorwurf der Oberflächlichkeit, vielleicht sogar des Primitivismus, nicht ganz ersparen, zeigt sich Wang Shuo im zweiten Teil schriftstellerisch von seiner besten Seite - das Wort "meisterlich" würde bei ihm wie Hohn klingen. Ort und Personen bleiben die gleichen, nur tritt noch ein Ich-Erzähler (das alter ego des Autors) hinzu, sowie eine Art Massenepidemie: alle Taugenichtse, Stadtstreicher und kleinen Ganoven von Teil 1 wollen auf einmal Schriftsteller werden; etwas Besseres haben sie offenbar nicht zu tun, und fürs Kartenspiel und andere wichtige Tätigkeiten bleibt immer noch genug Zeit. Für das tolle Treiben, das sich in der Folge entwickelt, schreibt Wang auf einmal fein durchkomponierte Textstellen und vermag den Humor und die Absurdität des ersten Teils noch dermaßen zu steigern, dass ersterer das Prädikat "befreiend", zweitere jenes der Göttlichkeit vollauf verdient und der Leser auf langanhaltende Lachanfälle bestens vorbereitet sein sollte. Mit anderen Worten, Wang Shuo braucht einen Vergleich mit den großen Humoristen der chinesischen Vergangenheit nicht zu scheuen - er schafft mit "Oberchaoten" eine brillante Satyre auf den Beruf des Schriftstellers und den Literaturbetrieb, die in der Weltliteratur ihresgleichen sucht.

(fritz; 05/2001)


Wang Shuo: "Oberchaoten"
Diogenes, 2001. 273 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Herzklopfen heißt das Spiel"

Plötzlich taucht in den Bergen die Leiche eines vor zehn Jahren Verschwundenen auf. Die Polizei behauptet, dass Fang, Pekinger Stadtindianer, den Toten als Letzter gesehen hat. Ist er ein Mörder? Was genau hat er an besagtem Tag gemacht? Erst allmählich begreift der junge Mann, dass er das Opfer eines gefährlichen Spiels werden soll. Ein ironischer Krimi aus einem China, das offiziell gar nicht existiert. (Diogenes)
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