Richard Wagner: "Das reiche Mädchen"


Nach dem sensationellen Erfolg seines vorigen Romans "Habseligkeiten" hat sich Richard Wagner für seinen nächsten Zeit gelassen. Und das hat sich gelohnt. Mit "Das reiche Mädchen" legt er nun eine Geschichte vor, die von ihrem Inhalt und der sprachlichen Ausgestaltung geeignet sein dürfte, zu einem weiteren literarischen Erfolg für Richard Wagner und den Aufbau Verlag zu werden.
Es ist, wie Wagner selbst einleitend schreibt, "ein Roman, in dem es um nichts anderes als um Freiheit, Liebe, Tod und Schuld geht." Und doch kommt einem die Geschichte bekannt vor, auch wenn der Autor betont, dass "jede eventuelle Ähnlichkeit der Romanfiguren mit realen Personen zufällig ist."

Ein Ich-Erzähler gibt die Geschichte der Ethnologin Sybille Sundermann, die er schon längst vergessen glaubte, wieder. Er ist Schriftsteller von Beruf, und als ihn seine Bekannte Anna Wysbar anruft, eine Regisseurin, die einen Film über Sybille Sundermann drehen möchte und ihn um ein Drehbuch dafür bittet, kommt in ihm die ganze Geschichte wieder hoch. Er schreibt sie auf und arbeitet sich daran ab, denn Sybille Sundermann ist prototypisch für eine Haltung von Intellektuellen, die, z.T. eng mit der deutschen Geschichte verknüpft und schuldbeladen, diese Schuld abtragen wollen, indem sie Fremden und Menschen aus anderen Kulturen in einer besonderen, letztlich aber sehr unkritischen und nicht selten auch bevormundenden Weise gegenübertreten. Wagner überzeichnet gekonnt, legt aber damit Denkweisen und alte Muster offen, die unter einem angeblichen Gutmenschentum andere Menschen - wieder einmal- zum Objekt machen.

Sybille Sundermann ist Ethnologin. Sie hat dieses Studienfach nicht ohne Grund gewählt, bietet es ihr doch unbewusst die Möglichkeiten, sich mit der Kultur der Roma zu befassen und ihren lebenden Vertretern "zu helfen". Dieser klassische Helferimpuls resultiert bei Sybille Sundermann aus einer großen Schuld, die sie zu tragen meint, denn ihre Familie zählt - unbestraft- zu den großen Gewinnern der Nazizeit. Sie hat sich unter anderem an Fremdarbeitern bereichert und ihren Reichtum ohne große Probleme in die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft gerettet. Schon in der Schule zieht man Sybille damit auf, wobei es Schüler und Lehrer sind, die "dem reichen Mädchen" durch entsprechende Bemerkungen immer wieder zusetzen.

Bald nach der Schule beginnen ihre Versuche, die Schuld, die sie quält, abzutragen, indem sie sich engagiert für die Rechte der Roma und Sinti, für deren Geschichte, Schicksal und Kultur sie eine ganz besondere Hingabe entwickelt. In ihrem Ethnologiestudium befasst sie sich fast ausschließlich damit und träumt ihr Leben lang davon, die ultimative und politisch korrekte Geschichte der Roma zu verfassen. Ohne dass ihr es recht bewusst ist, stellt neben dem Abbüßen der Schuld dieses eher egoistische Vorhaben den inneren Grund dar, warum sie sich in den Flüchtling Dejan Ferari verliebt. Er ist aus Serbien vor den Wirren des dortigen Bürgerkriegs geflohen. Über seine eigene Rolle in diesem Krieg spricht er nicht; er gibt sich bei den deutschen Asylbehörden als Roma aus, weil das seine Chance erhöht, als Flüchtling anerkannt zu werden. Das ganze Buch über wird nicht eindeutig klar, ob Dejan wirklich einen Romahintergrund hat, oder ob er es nur vortäuscht. Sybille gegenüber, die ihn sofort in ihrer Wohnung aufnimmt, ist er zurückhaltend bis verschlossen, wenn sie ihn immer wieder löchert mit Fragen zur Romakultur, weil sie dringend mit ihrem ambitionierten und völlig überzogenen Buchprojekt weiterkommen will.
"Ihr Ethnologinnenblick kann wie ein Überfall sein. Er aber fühlt sich ertappt. Meint, den Rom geben zu müssen, der er so nicht ist, nicht sein will. Zum Rom wird man gemacht. Von Feinden wie von Freunden. Manchmal merkt sie den Fauxpas, manchmal nicht. Sie entschuldigt sich bei ihm, aber er weiß nicht, wofür. Und sie erklärt es nicht weiter, was soll sie auch erklären? Sie würden sonst über nichts mehr außer sich selbst sprechen. Das aber geht an die Substanz der Liebe. Und schadet der Sache. Die Liebe ist nicht verhandelbar. Die Sache schon längst nicht. Und schon gar nicht die Sache, für die Bille gerade steht, für die sie gerade stehen will, die Sache der Roma. Sie ist so weit weg von ihr, dass sie sich Dejan in ihr Leben holen muss, um sicher zu sein, dass ihr die Sache nicht verlorengeht."

Dejan versucht sich anzupassen, doch die Konflikte zwischen diesen beiden ziemlich ungleichen Menschen nehmen zu. Allerdings würde es gegen das größte Tabu verstoßen, das Bille aufgebaut hat, sich diese Ungleichheit einzugestehen. Dejan gibt sich alle Mühe, ist er doch vom Wohlwollen Billes abhängig, was gleichzeitig langsam aber unaufhaltsam einen Groll in ihm hochkommen lässt, der etwas mit seiner Würde zu tun hat. Denn indem Bille sie wahren und retten will, seine Würde, tritt sie diese gleichzeitig mit Füßen, und der Leser spürt schon zu diesem Zeitpunkt, warum diese Beziehung kein gutes Ende nehmen wird, warum sie einem gewaltsamen Höhepunkt zustrebt.
"Seit die Querelen zwischen ihnen zur Regel geworden sind, stöbert Dejan unentwegt in seinem Vorleben herum, auf der Suche nach dem vergrabenen Schatz der eigenen Kultur, nach dem anderen, nach etwas, was er ihr entgegenhalten könnte, was er dem Deutschen, das von ihm Besitz ergreift, entgegenzusetzen hätte. Das hat mit den Tagungen zu tun, zu denen er Bille begleitete. Mit dem, was er dort aufgeschnappt hat über den guten Fremden.
Er sucht und findet nichts, und findet er doch was, glaubt er endlich doch etwas gefunden zu haben, redet er so lange darüber, schwärmt er so lange davon, bis es schließlich falsch erscheint, aufgeblasen, erfunden. Bei so viel Zugehörigkeitszwang kann er die eigene Geschichte nicht mehr glaubhaft erzählen. Je mehr er zum Rom wird, desto weniger ist er Dejan, und alles, was er vorzubringen weiß, gerät ihm zu Rechtfertigung, weil es aus der Verlegenheit geboren ist. Aus dem Bedürfnis nach Stolz."


Richard Wagner erzählt diese deutsche Geschichte im Gespräch zwischen dem Ich-Erzähler und Autor des Drehbuches und Anna, der Regisseurin. Immer wieder treffen sie zusammen und bringen im Gespräch die Handlung voran, komplettieren und interpretieren sie. Auf diese Weise ist Wagner ein beeindruckendes Buch darüber gelungen, wie sich selbst bei der Generation der Enkel bisweilen noch das Trauma der Nazidiktatur Raum schafft und sich zur Bewältigung immer wieder andere Objekte sucht.
Das Buch lädt ein zu Diskussionen über die Grenzen eines Multikulturalismus, der Differenzen leugnet und Menschen anderer Kulturen zu Objekten der eigenen sozialen und politischen Hygienebedürfnisse macht.

(Winfried Stanzick; 08/2007)


Richard Wagner: "Das reiche Mädchen"
Gebundene Ausgabe:
Aufbau Verlag, 2007. 255 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Aufbau Verlag, 2011.
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Richard Wagner, geboren 1952 im rumänischen Banat, arbeitete als Deutschlehrer und Journalist und veröffentlichte Lyrik und Prosa in deutscher Sprache. Nach Arbeits- und Publikationsverbot verließ er Rumänien im Jahr 1987 und lebt seitdem als freier Schriftsteller in Berlin. Er gewann zahlreiche Preise und Stipendien.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Belüge mich"

Eine junge Journalistin zwischen München und Bukarest: Ein Roman, in dem Geschichte auf schmerzliche Weise zur Familiengeschichte wird. Analytisch und sinnlich schreibend, erweist sich Wagner als ein europäischer Schriftsteller von Format.
"Ein Roman ist die Erforschung dessen, was das menschliche Leben bedeutet in der Falle, zu der die Welt geworden ist", schrieb Kundera. Mit seinem neuen Roman folgt Richard Wagner dieser Maxime, indem er die Kräfte von Verrat und Eros, Vergangenheit und Gegenwart, Familie und Politik auf seine Heldin einwirken lässt:
Sandra Horn ist Journalistin. In Bukarest soll sie den Ableger einer Frauenzeitschrift gründen. Dort fängt sie mit dem Anwalt Marcel eine Affäre an, obwohl dessen Frau ihre beste Freundin war. Sandra taucht in die geheime Vergangenheit ihrer und Marcels Familie ein, in das Bukarest der 1930er-Jahre, in die Tangomusik und die Literatur jener Zeit. Und sie erfährt, dass die alten Konflikte andauern und ihr Leben verändern. (Aufbau Verlag)
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"Miss Bukarest"
Dinu Schullerus, der aus Rumänien stammende Detektiv, hieß früher Dinu Matache. Vor zehn Jahren ist er mit seiner deutschstämmigen Frau Lotte nach West-Berlin ausgereist. Als Geheimdienstoffizier hatte Dinu Dissidenten, Künstler und Akademiker in Rumänien bespitzelt. Unter anderem auch die attraktive Erika Binder, die ehemals beste Freundin seiner Frau und deren Freund, den Autor Klaus Richartz. 1996 sieht Dinu Erika in Berlin wieder. Kurze Zeit darauf ist sie tot. Für Dinu wird die Aufklärung ihres Todes zu einer Reise in die Vergangenheit, deren Schatten nicht nur ihn, sondern auch Richartz und Dinus Sohn Christian umfangen.
"Miss Bukarest" wurde mit dem "ndl-Preis 2001" ausgezeichnet. (Aufbau)
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"Habseligkeiten"
Richard Wagner erzählt die Geschichte einer Familie, die seine eigene sein könnte. Seit Generationen ist sie im Banat (Rumänien) ansässig, doch die Auswanderung der Banater Schwaben nach Deutschland lässt die deutschen Spuren immer mehr verblassen. Gegenwart und Vergangenheit kunstvoll verschränkend erzählt Wagner vom Abenteuer einer Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert, von der Verbitterung des zurückgelassenen Kindes, von einer heimlichen Liebe im russischen Arbeitslager und von der käuflichen Liebe ungarischer Prostituierter unserer Tage. Er beschreibt karge und traumhafte Landschaften, berichtet von Verrat und Korruption zu allen Zeiten und setzt den kleinen Leuten einer aussterbenden Familie ein Denkmal, ein komisch-trauriger anrührender und doch kraftvoller Roman. (Aufbau)
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"Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan"
Der Autor geht den nationalen und kulturellen Wurzeln des Balkans nach. In seinen Essays ergänzt er Anekdoten um Analysen und entwirft so ein stimmungsvolles wie aufschlussreiches Bild einer Region, ohne gängige Klischees zu bedienen. Er zeigt u.a. die enge Verflechtung und Beeinflussung durch die großen Imperien und die schwierige Nationswerdung nach dem Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg. (Aufbau)
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"Belüge mich" zur Rezension ...

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