John D. Barrow: "Einmal Unendlichkeit und zurück"

Was wir über das Zeitlose und Endlose wissen


Vorstellung eines der schwierigsten und spannendsten interdisziplinären Themen

Die "alten Griechen" scheuten die Unendlichkeit ebenso wie die Null, weil sie nicht in ihr Weltbild passte. Zenons Paradoxa, zum Beispiel jenes von Achilles, der die Schildkröte beim Wettlauf nicht einholen kann, belegen, welche Schwierigkeiten die Auseinandersetzung mit der Unendlichkeit aufwirft. Auch heute noch tut man sich schwer, mit dem Begriff "Unendlichkeit" umzugehen, obwohl er zumindest für die Mathematiker und Physiker fassbarer geworden ist und manches Phänomen erklären kann.
John D. Barrow geht der Bedeutung des Unendlichen in den Disziplinen Mathematik, Astrophysik, Philosophie und Religion nach. Mathematische Gedankenspiele liefern einen hervorragenden Einstieg in die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise des Begriffs, Nikolaus von Kues und Kant gehören zu den bedeutenden Repräsentanten der Theologie und der Philosophie - nicht zu vergessen Augustinus, der sich ebenfalls intensiv mit der Unendlichkeit befasste.
Die Unendlichkeit von Gottes Größe oder der Größe des Alls, das ewige Leben oder die Unendlichkeit der Zeit und auch das unendlich Kleine: vieles lässt sich intellektuell erfassen und in Formeln und Gesetze kleiden, anderes entzieht sich diesem Zugriff und provoziert Spekulationen; die hier vorgestellten besitzen allerdings einen wissenschaftlich fundierten Hintergrund. Ein spannender Themenbereich ist die bislang ungeklärte Entwicklung des Universums, denn wir wissen nicht, was vor dem Urknall war und wie die Zukunft unseres Universums aussieht, aber wir können diverse Szenarien entwerfen, die aufgrund des heutigen Kenntnisstandes plausibel erscheinen. In Verbindung mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung bietet die Voraussetzung der Unendlichkeit die Erkenntnis, dass es unendlich viele Kopien unserer selbst gibt, und dass diese Kopien gegenwärtig oder zu einer anderen Zeit, vielleicht auch in anderen Universen, alles irgend Mögliche erleben - unendlich oft. Fremdartige Universen mit eigenen Naturgesetzen werden durch die Unendlichkeit ebenso realistisch wie ein irdisches ewiges Leben, dessen Sinn, voraussichtliche Güte und Folgen in diesem Buch ebenfalls diskutiert werden. Denkbar wäre auch, dass wir in der Art moderner Computerspiele nur eine Simulation durch eine höher entwickelte Zivilisation sind - oder die Simulation einer Simulation. Das förmlich in der Luft liegende Zeitreisen-Problem wird gegen Ende des Buchs gleichfalls aufgegriffen.

Diese Beispiele geben nur einen Ausschnitt der ausgearbeiteten Themen wieder. Viele weitere sind komplexer und entziehen sich einer kurzen Zusammenfassung. Das Buch enthält praktisch alle denkbaren Aspekte der Unendlichkeit, mathematisch exakte, solche aus der Logik des Philosophen und weitere aus dem Bereich wissenschaftlich zulässiger - nämlich auf aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis fußender - Spekulationen. John D. Barrow weiß all diese Sachverhalte gut verständlich darzulegen, doch er fordert den Leser: Konzentration und die Bereitschaft, den Verstand anzustrengen, sind bei dieser anspruchsvollen Lektüre beim Laien erforderlich, Vorkenntnisse hingegen benötigt man nicht unbedingt. Viele anschauliche Grafiken und Tabellen erleichtern das Begreifen.
Das Literaturverzeichnis bietet Anregungen zur Vertiefung, und die vielen ausführlichen Anmerkungen zum Text enthalten weitere Hilfestellungen. Lässt man sich auf das Buch und somit auf das schwierige, zuweilen Schwindel erregende Thema "Unendlichkeit" ein, so wird man durch eine spannende Reise kreuz und quer durch alle berührten Disziplinen belohnt, die des Lesers Bild vom Universum, vom Sinn des Lebens und Gottes Rolle darin (so man gläubig ist) verändern kann.

(Regina Károlyi; 04/2006)


John D. Barrow: "Einmal Unendlichkeit und zurück"
Übersetzt von Carl Freytag.
Campus, 2006. 315 Seiten.
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John D. Barrow ist Physiker an der Universität Cambridge (Großbritannien) und Autor zahlreicher Sachbücher, die in 30 Sprachen übersetzt wurden. Der international renommierte und preisgekrönte Wissenschaftler ist in Deutschland außerdem durch Vorträge und Fachartikel bekannt.

Leseprobe:

Dieses Buch handelt vom Größten überhaupt: vom Allergrößten. Es ist der ultimative Reiseführer, der zu allem führt, was es gibt, der
Führer zur Unendlichkeit und zur Ewigkeit, der alle Wege durch Raum und Zeit beschreibt: die breiten, bequemen und die schmalen, dornenreichen.
Die Unendlichkeit spukt schon seit Tausenden von Jahren in den Köpfen der Menschen herum. Theologen wie Naturwissenschaftler haben versucht, sie zu verstehen, sie zurechtzustutzen, sie zu entdecken, wenn sie in ganz unterschiedlichen Gestalten und Dimensionen auftaucht, und zu entscheiden, ob man sie besser willkommen heißt oder davonjagt, wenn man versucht, das Universum zu beschreiben. Ist die Unendlichkeit ein Teil des Problems - oder ein Teil seiner Lösung?
Die Unendlichkeit ist aber auch ein ganz aktuelles Thema. Die Physiker suchen immer dringender nach einer "Theorie für Alles" oder einer "Weltformel" und werden dabei in erster Linie von ihrer Einstellung gegenüber unendlichen Größen bestimmt. Treten sie auf, kann das eine Warnung sein, auf dem Weg zur Wahrheit in einer Sackgasse gelandet zu sein. Die Begeisterung, mit der man sich auf die Superstringtheorie gestürzt hat, lag an ihrer genialen Art, das Problem unendlicher Größen zu umgehen, mit dem sich all ihre Vorgänger herumschlagen mussten.
Diese neuen aufregenden Theorien lassen die Entscheidung offen, ob die Materie unendlich teilbar ist. Werden wir ständig noch kleinere, noch "elementarere" Teilchen in allem finden, was existiert? Ist die Welt wie eine jener russischen Matroschkas gebaut, die eine nie endende Kette immer kleinerer Puppen enthalten? Oder gibt es eine Grenze, an der alles zum endgültigen Halt kommt: ein kleinstes "Ding", eine kleinste Größe, eine kürzeste Zeit? Oder sind vielleicht die grundlegenden "Dinge", aus denen die Welt zusammengefügt ist, letztlich gar keine kleinen Teilchen?
Kosmologen haben mit der Unendlichkeit ihre eigenen Probleme. Jahrzehntelang waren sie ganz glücklich mit der Vorstellung, dass das Universum aus Raum und Zeit mit einer "Singularität" begann, bei der seine Temperatur, seine Dichte und so ziemlich alles unendlich war. Aber lässt die Verschmelzung von Allgemeiner Relativitätstheorie und Quantentheorie, die Ehe der Schwerkraft mit den Quanten, wirklich unendliche Größen zu? Ist es ein Zeichen für einen Erfolg oder für eine Niederlage, wenn sie auftreten? Deuten Unendlichkeiten nur an, dass wir noch nicht genügend Teile des Puzzles gefunden haben, oder sind sie ein lebenswichtiger Teil der Lösung jener "letzten" Probleme: Anfang und Ende des Universums, "Big Bang" und "Big Crunch", Urknall und Weltuntergang?
Die Kosmologen müssen sich noch mit einer anderen Unendlichkeit herumschlagen: einer möglicherweise unendlichen Zukunft, der Ewigkeit. Ist das Universum drauf und dran, ewig zu existieren? Was bedeutet überhaupt "ewig"? Kann Leben, welche Form es auch hat, für immer und ewig überdauern? Und, um wieder zu uns Menschen zu kommen: Was hätte es für soziale, persönliche, geistige, rechtliche, materielle und psychische Folgen, wenn wir davon ausgehen müssten, ewig zu leben?
Auch die Mathematiker werden mit der Unendlichkeit konfrontiert. Das Problem zählt zu den größten, vor dem die Mathematik je stand. Vor noch nicht einmal 70 Jahren brach im Lager der Mathematiker ein Bürgerkrieg über die Bedeutung der Unendlichkeit aus, der etliche Opfer forderte und viel Bitterkeit hinterließ. Die eine Partei wollte die Mathematik abschotten und die Unendlichkeit aus ihr verbannen, um auszuschließen, dass man sie als etwas "real" Existierendes behandelte. Fachzeitschriften stellten ihr Erscheinen ein, und Mathematiker wurde geächtet, weil sie auf der "falschen" Seite standen.
Der ganzen Aufregung lag das Werk eines Mannes zugrunde: Georg Cantor. Er hatte in genialer Weise gezeigt, wie man den Paradoxien des Unendlichen einen Sinn geben kann, jenes Unendlichen, das schon drei Jahrhunderte zuvor von Galilei zum ersten Mal dingfest gemacht worden war. Was ist das Wesen einer unendlichen Zahl von Dingen? Wie ist es möglich, dass man von unendlich vielen Dingen eines wegnehmen kann und es trotzdem noch unendlich viele sind? Gibt es Unendlichkeiten, die größer sind als andere? Gibt es eine ultimative Unendlichkeit, jenseits der weder etwas Größeres existiert noch gedacht werden kann? Oder können Unendlichkeiten bis ins Unendliche gesteigert werden?
Leider lebte Cantor nicht lange genug, um zu sehen, wie die Früchte seiner Arbeit zu einem fundamentalen Teil der Mathematik wurden. Von den Gegnern einer unendlichen Mathematik angegriffen und abgetan, gab er immer wieder für lange Zeit die Mathematik auf, wurde aber dann wieder ermutigt, als katholische Theologen seine Ideen begeistert aufnahmen. An Depressionen leidend und von Krankheiten gequält, starb er schließlich allein und verlassen in einem Sanatorium. Cantor: einer der vergessenen Helden der Mathematik, ein Künstler, ein Genie. Seine bewegende Geschichte wird in einem der Kapitel erzählt.
Die Theologen haben sich zu allen Zeiten mit Unendlichkeit und Ewigkeit auseinander gesetzt und versucht, diesen Begriffen, die in ihren Doktrinen und Glaubenssätzen auftauchen, einen Sinn zu geben. Ist Gott unendlich? Muss er nicht noch "unendlicher" sein als andere, banale irdische Unendlichkeiten (wie beispielsweise die unendliche Folge der natürlichen Zahlen)? Wie gehen die verschiedenen Religionen mit Unendlichkeit und Ewigkeit um? Sehen sie in ihnen eine Bedrohung oder die Andeutung, dass es etwas jenseits unserer menschlichen Vorstellungskraft gibt? Cantor hält eine völlig unerwartete Antwort für uns bereit.
Die alten Philosophen sahen sich seit Zenons Zeiten immer wieder von den Paradoxien der Unendlichkeit herausgefordert. Aber was ist mit den Philosophen unserer Zeit? Mit welchen Problemen schlagen sie sich herum? Wir werden einige aktuelle Beispiele diskutieren, bei denen es um Grenzfragen zwischen Naturwissenschaft und Philosophie geht. Sie kreisen darum, ob man eine unendliche Zahl von Aufgaben in einer endlichen Zeit erledigen kann und ob ein real existierender Computer diesen "Supertask", wie eine solche gewaltige Aufgabe genannt wird, zu bewältigen vermag. Was würde passieren, wenn er es könnte? Für eine philosophische Untersuchung dieser einfachen Frage muss allerdings zuvor einiges klargestellt werden: Was heißt "möglich"? Was sind "Aufgaben"? Was bedeuten "Zahl", "unendlich" und "endlich"? Und, last not least, was bedeutet "Zeit"?
Wenn wir uns im Gebiet der modernen Naturwissenschaften etwas weiter umschauen, stoßen wir also auf eine Reihe seltsamer Probleme, die mit der Unendlichkeit von Raum und Zeit zu tun haben: Ist das Universum unendlich oder endlich? Wird es ewig existieren? Dauert die Vergangenheit schon ewig? Kann in einem unendlichen Universum alles passieren? Gibt es Aufgaben, zu deren Lösung jeder Computer unendlich viel Zeit bräuchte?
Die meisten denken, Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit seien dasselbe. Das ist aber nicht der Fall! Es gibt endliche Dinge, die nirgends eine Begrenzung haben. Ein Beispiel ist die Oberfläche einer Billardkugel. Eine Fliege kann auf ihr so lange herumwandern wie sie will: Sie wird nie über einen Rand fallen. Es gibt alle möglichen Arten von gekrümmten Räumen - aber was passiert, wenn sie unendlich gekrümmt sind? Und hat uns nicht Einstein gezeigt, dass der Weltraum gekrümmt ist? Was sagt uns das nun über das Universum?
Auch die Zeit kann auf seltsame Weise unbegrenzt sein, ohne ein Ende zu haben. Wenn wir an "Zeit" denken, haben wir gewöhnlich eine gerade Linie vor Augen, auf der sie strikt und unaufhaltsam voranschreitet. Jedes Ereignis hat seinen Platz: Es liegt entweder vor oder nach einem anderen Ereignis. Aber leider ist das Universum nicht so einfach gebaut. Stellen wir uns Soldaten vor, die hintereinander marschieren: Jeder weiß, wer vor ihm ist und wer hinter ihm marschiert. Marschieren sie aber nun auf Befehl im Kreis, ist das nicht mehr klar: Jeder ist nun sowohl vor als auch hinter jedem. Es gibt keine eindeutige Anordnung mehr. Verläuft die Zeit in ähnlicher Weise im Kreis, sind Zeitreisen erlaubt, und man kann sich auf alle möglichen Paradoxien gefasst machen. Lesen Sie, lieber Leser, dieses Buch mit aller Sorgfalt, dann reisen Sie in die Vergangenheit zurück und treffen mich, wie ich gerade dabei bin, das Buch zu schreiben. Sie teilen mir Wort für Wort mit, was darin steht. Wo kommt denn nun die Idee für dieses Buch her? Sie haben sie von mir, aber ich habe sie von Ihnen. Es scheint, als sei das Buch aus dem Nichts entstanden - ein wenig wie das Universum.

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