Paolo Zellini: "Eine kurze Geschichte der Unendlichkeit"


Die zersetzende Kraft des Unbegrenzten

"Es gibt einen Begriff, der alle anderen zersetzt und verfälscht. Ich spreche nicht vom Bösen, das in der Ethik sein begrenztes Reich hat. Ich spreche vom Unendlichen." So leitet nicht nur Jorge Luis Borges seine "Kurzbiografie" des Unendlichen ein, sondern auch Roberto Zellini sein Buch "Eine kurze Geschichte der Unendlichkeit". "Nichts ist gefährlicher als der Verlust von Grenze und Maß: Das Unendliche bedeutet den Verlust eines Wertes - nämlich die relative Vollkommenheit des konkret Bestimmten und des formal Vollendeten - und führt dazu, sich im Nichts oder in einem ausweglosen Labyrinth zu verirren."

Der italienische Mathematiker und Philosoph, dessen Buch bereits im Jahr 1980 in Italien erschien, mit dem "Premio Viareggio" ausgezeichnet wurde und mittlerweile zum Klassiker avancierte, nimmt den gewillten Leser in die wundersame Welt des Unendlichen mit. Jene kommt nicht selten in der Geschichte im Gewand des metaphysisch absolut Bösen daher, des Keims von Chaos und Sinnlosigkeit. Die Schwierigkeit des Begriffs liegt offensichtlich in seiner Nichterfassbarkeit, seiner Unerschöpflichkeit, die niemals in der Gesamtheit gedacht werden kann.
Schon vor unserer Zeitrechnung beschäftigten sich Gelehrte wie Anaximander oder Aristoteles mit der Begrifflichkeit des nicht Eingrenzbaren. Der Versuch einer klaren Definition setzt sich bis in unsere Zeit fort.

Zellini nimmt den Leser auf einen wahrlich anstrengenden Diskurs mit. Thomas von Aquin, Nikolaus von Kues, Giordano Bruno, Descartes, Leibniz, Hegel und Kant oder Abhandlungen über irrationale, unbestimmte oder transfinite Zahlen sind nur einige Stationspunkte auf der Etappe der Mathematik des Unendlichen - ein wahrer Freiheitszug heterogener Weltsicht und Weltdeutung. Da finden mythische Spekulationen genauso Einzug wie theologische, philosophische oder literarische Abhandlungen und werden neben Ausführungen großer Mathematiker wie Cantor oder Gödel gestellt.

Das umfassende Problem des Habbarmachens des Unendlichen weiß Zellini äußerst detailreich, umfassend und mit großem Tiefgang aufzuzeigen. Als populärwissenschaftliches Buch kann man "Eine Kurze Geschichte der Unendlichkeit" jedoch nicht bezeichnen, dafür wird einfach zu viel überdurchschnittliches Wissen und "Fremdwortsicherheit" vorausgesetzt. Es ist daher eher ein Buch für Wissenschaftsbegeisterte, die sich weitere Erkenntniswege eröffnen möchten. Denen jedoch vermag Roberto Zellini die rätselhafte Schönheit des Infiniten glaubhaft zu enthüllen.

Vielleicht fasst Novalis die Wahrheit des Unendlichen mit folgenden Worten am besten zusammen:
"Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren - Das Hörbare am Unhörbaren - Das Fühlbare am Unfühlbaren. Vielleicht das Denkbare am Undenkbaren."

(Heike Geilen; 05/2010)


Paolo Zellini: "Eine kurze Geschichte der Unendlichkeit"
(Originaltitel "Breve Storia dell'infinito")
Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann.
C.H. Beck, 2010. 256 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Paolo Zellini, geboren 1946 in Triest, lehrt Mathematik an der römischen Universität Tor Vergata.