Katharina Hagena: "Was die wilden Wellen sagen"

Der Seeweg durch den "Ulysses"


Vorurteile bestätigt?
Ist es nicht verwunderlich, dass sich gerade in der Literaturwissenschaft scheinbar längst überwundene Vorurteile zu bestätigen scheinen? Betrachtet man einmal den Umgang von Teilen der deutschsprachigen Wissenschaftler mit so großen deutschsprachigen Literaten wie Thomas Mann, Robert Musil oder Arno Schmidt, kann man schon fast von einem bierernst geführten Glaubenskrieg sprechen.

Ganz anders der Umgang der Franzosen mit einem ihrer größten Literaten: Marcel Proust. Hier hat man das Gefühl, einem Literaturzirkel in der Hochzeit der bourgeoisen Dekadenz beizuwohnen, wo mittels Gestik und Mimik nicht allzu ernst gemeinte Scheingefechte geführt werden, die beim anschießenden Festbankett, bei gutem Essen und erlesenem Wein mit einem Augenzwinkern beigelegt werden, weil man sich im Grunde genommen ja einig ist.

Wieder ganz anders der Umgang der Iren mit James Joyce, die den Nachnamen des berühmten Autors wörtlich nehmen und viel Spaß (englisch: joy) beim Feiern des Dubliners haben. Dieser Spaß erreicht jedes Jahr am 16. Juni, "Bloomsday" genannt, seinen Höhepunkt. Der 16. Juni ist jener Tag, an dem die Odyssee des Anzeigenverkäufers Bloom spielt, die Joyce im "Ulysses" erzählt.

An diesem Tag steht ganz Dublin Kopf, und quer durch alle Bevölkerungsschichten sind so verrückte Dinge wie das Baden am Forty Foot, das Verzehren eines Gorgonzola-Käsebrotes und eines Glases Burgunder bei "Davy Byrne's" (dieses deliziöse Mahl steht nur an diesem Tag auf der Speisekarte) oder der Kauf von Zitronenseife selbstverständlich. Der Ausklang des Feiertages erfolgt in den zahlreichen Pubs, wo jeder an speziell für diesen Tag aufgebauten Kathedern nach Gusto dem Kneipenpublikum seine Lieblingspassage aus dem "Ulysses" vorliest, dort angerissene Gedichte vorträgt oder hundert Jahre alte Gassenhauer mit mehr oder weniger gesanglichen Qualitäten vorträgt. Diese schon teils Kleinkunstbeiträgen ähnelnden Auftritte werden mit vielen Trinksprüchen, viel Gelächter, Gejohle und Beifall quittiert.

Mentalitätsbedingt ist es vielleicht schwer vorstellbar, dass ein deutscher Literaturwissenschaftler an diesem Treiben Vergnügen findet; ja genau so witzig wie kenntnis- und pointenreich, sprachspielernd und, was besonders wichtig ist, allgemeinverständlich und begeisternd, ein Buch zum "Ulysses" zu schreiben imstande ist und somit zumindest ein bisschen dem Flair eines 16. Juni in Dublin nahe kommt. Und doch ...

... gibt es Licht am Ende des Tunnels, und dieses hat sogar Gesicht und Namen: Katharina Hagena, die sich als freie Autorin in Hamburg niedergelassen hat, nachdem sie u. a. einige Zeit als Lektorin am Dubliner Trinity College tätig war.

Anregende Wortklaubereien
In ihrem im Marebuchverlag erschienenen Buch "Was die wilden Wellen sagen" nimmt sie sich nach intensiver und zehn Jahre dauernder Recherche eines bisher fast völlig vernachlässigten Teilbereiches des "Ulysses" an. Der Titel ist eine wunderschön poetische und sprachrhythmisch ansprechende Alliteration, die aber nur unzureichend den Inhalt des Buches wiedergibt. Denn zum großen Vergnügen des Lesers weitet Katharina Hagena ihre Betrachtungen auf alles aus, was man großzügiger Weise als "Flüssigkeiten" betrachten kann. So erfahren wir, welches Getränk am häufigsten im "Ulysses" getrunken wird, und dies ist, zum allgemeinen Staunen, nicht der den Iren nachgesagte Whiskey sondern - der schnöde Tee. Diese und viele weitere kleine Informationen tauchen im Text auf wie Schokostreusel im Stracciatella-Eis und erfüllen die gleiche Funktion - wenn man sie langsam am Gaumen schmelzen lässt, potenzieren sie den Genuss ungemein.

Doch lassen Sie uns aus Italien nach Irland und zu den oben erwähnten Getränken zurückkehren. Die vorgenannte Passage spielt in Kapitel 11. Stellen wir uns doch gedanklich mit an die Theke und lauschen dem Wortwechsel zwischen Lenehan und Boylan. Diese besprechen, mit welchem Getränk der Abend eingeläutet werden soll. Die Autorin übersetzt uns flüsternd dieses Gespräch und weist uns gleich auf mögliche Übersetzungsfehler hin. Beispielsweise wird der Begriff "Potions" gelegentlich mit "Getränk" übersetzt. Doch die originäre Bedeutung ist "Zaubertränke, magische Gebräue oder Aphrodisiaka." Katharina Hagena setzt nun die folgenden Handlungen und Gespräche in Beziehung zu den vorgenannten Übersetzungsmöglichkeiten. Dies wiederum führt zu neuen und völlig überraschenden intertextuellen Bezügen, die von der Autorin klug, ausführlich und verständlich erläutert und begründet werden. Dabei ist es völlig unerheblich, ob man der englischen Sprache mächtig ist, um die Überlegungen nachvollziehen zu können, denn es erfolgt keine oberlehrerhafte Unterweisung, vielmehr bemerkt man in jedem Satz die Begeisterung der Autorin für das Subjekt der Betrachtung. Und sie hat die Gabe, sowohl diese Begeisterung zu vermitteln und auf den Leser zu übertragen als auch das Bemühen nicht aus den Augen zu verlieren, jedem aufgeschlossenen Leser einen verständlichen Zugang zu einem der komplexesten Werke der Weltliteratur zu ermöglichen.

Doch sind diese Ausflüge in die Bedeutung der "richtigen" Übersetzung nicht alles, was dem Leser auf 178 Seiten geboten wird.

Vielseitiges und offenes Konzept
Dankenswerterweise übernimmt die Autorin den Part, Vergleiche zum Werk und Denken Homers sowie Unterschiede und/oder Gemeinsamkeiten zwischen Odysseus und Bloom zu untersuchen und auf Parallelen und/oder Abweichungen der Texte hinzuweisen. In der gleichen Weise, hier mehr einem Dirigenten als einem Schriftsteller ähnelnd, macht sie an Beispielen deutlich, wie man auf Grund des Sprachrhythmus Anklänge an den Rhythmus des Meeres mit seinen Gezeiten, mit der Melodie seines Wellenganges und Dünung, Sturm und Flaute, Strömungen und kreisenden Mahlströmen im "Ulysses" findet. Hier erfolgt auch der explizite Rat an den Leser, "Den 'Ulysses' unbedingt laut lesen", denn dann werden aus den Buchstabenkombinationen Partituren mit unglaublich differenzierten Klangwelten.

Als letzter und doch nicht unerheblicher Vorzug von Katharina Hagenas Buch gegenüber jenen ihrer Genrekollegen muss erwähnt werden, dass es sich auf Grund des offenen Konzeptes vorzüglich auf verschiedene Leseweisen erschließen lässt, je nach Typus des Lesers. Da gibt es diejenigen, die ein Buch systematisch von vorne nach hinten durchlesen; diejenigen, die mit dem Schluss anfangen, weil sie die Spannung, das Ende nicht zu kennen, nicht mehr aushalten. Genauso den Querleser, der bei bestimmten Schlüsselwörtern innehält, um seine Lektüre zu vertiefen, wie auch den flüchtigen Leser, der ein Buch ohne bestimmte Intention aufschlägt und anhand des Inhaltsverzeichnisses entscheidet, was für ihn von Interesse ist oder welche Passagen ihn eher nicht ansprechen. Jeder von ihnen wird zu seiner Überraschung entdecken, dass es einfach Spaß macht, dieses Buch auf individuelle Weise zu erschließen. Und letztendlich spielt es keine Rolle, wie man Zugang zu diesem Buch erlangt, denn es wird keinem der genannten Lesertypen gelingen, das Buch wieder ins Regal zu stellen, ohne es doch ganz gelesen zu haben.

(Wolfgang Haan; 06/2006)


Katharina Hagena: "Was die wilden Wellen sagen"
Marebuch, 2006. 178 Seiten.
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Katharina Hagena, geboren 1967, forscht seit über zehn Jahren zum Werk von James Joyce. Sie erhielt ein Forschungsstipendium der Zürcher James-Joyce-Stiftung und arbeitete als Lektorin am Trinity College in Dublin. Heute lehrt sie englische Literatur an der Universität Hamburg und schreibt an einem Buch über Türme in der Literatur.