Wahn des Mittelalters - oder doch hohe,
ewige Poesie der Romantik?

Einstimmung


Wo sich das Kriminalmuseum befände, wollte der interessierte Tourist wissen.
Weil er bemerkt hatte, dass ich ihm freundlich und aufmerksam gesonnen war, fragte er weiter. Den Galgenturm und das gleichnamige Tor dazu wollte er sich auch ansehen, und ob man da noch irgendwas sehen könne von der einstigen Hinrichtungsstätte. Ach, den Henkersturm und dazu gleich den Totengräbersturm, von denen er auch schon gehört habe, die beiden würde er sich auch gerne mal ansehen. Und weil ich ihm immer noch freundlich und aufmerksam gesonnen war, fragte er weiter und zählte noch mehr Türme auf. Den Strafturm und den Faulturm, den Pulver- und den Schwefelturm. Ich dachte schon, er wolle alle dreiundvierzig Türme der Stadt aufzählen. Er meinte, wenn er schon mal hier sei, möchte er "möglichst viel von diesem einzigartigen Dornröschenschlaf sehen".
Ich sah, dass sich der Besucher Relikte tiefsten Mittelalters anschauen wollte, mit Bezeichnungen, die für sich sprechen.
Dann fiel ihm plötzlich ein, als er mich so dasitzen sah an der Tauberriviera und ihm freundlich Gehör schenkend, ob ich denn überhaupt von hier sei und Bescheid wisse. Ja, ich sei von hier, und ich wüsste auch ein wenig Bescheid über die Stadt, gab ich ihm zur Antwort. Den Henkersturm, sagte ich, könne er sich gleich in Verbindung mit dem Galgenturm ansehen, denn der steht nicht allzu weit entfernt. Und dazwischen liegt das Kummereck, da könne er auch gleich mal einen Blick hinwerfen. Wenn die Unglückseligen zur Galgenstätte gebracht wurden und an dieser Ecke vorbeikamen, machte ich ihn aufmerksam, grauste ihnen noch mehr vor ihrem Schicksal, weil sie schon hier dem Tod begegneten: in Form der Abdeckerei nämlich, die sich einst hier befand. Ich legte meine Lektüre zur Seite und freute mich über solch reges Interesse für die mittelalterliche Stadt und war bereit, ihm zu helfen.
So und ähnlich erging es mir ziemlich oft. Ich glaube, man sah mir an, dass ich dem Ort recht zugetan war. Und vielleicht merkten die Besucher sogar, dass ich in ihn verliebt war, wenn sie mich dasitzen sahen, versonnen an einem der lauschigen Plätzchen unterhalb der Stadtmauer, wo ich mich romantischen Gedichten hingab und gerne bereit war, ihnen den Weg zu den gewünschten Sehenswürdigkeiten zu weisen.
In der Tat verbindet uns etwas, das zu einer richtigen Liebschaft herangereift ist und es geschafft hat, meine Seele zu infizieren und bisweilen ganz für sich einzunehmen. Und so übt diese alte Stadt Macht über mich aus und hat mich zu ihrem Werkzeug gemacht. Sie flirtet mit mir auf eine äußerst leichtfüßige Art, wenn ich dastehe und ihre Silhouette zum soundsovielten Mal bewundere. Bin ich dann erst mal hinter ihren mächtigen Mauern, nimmt sie mich mit Haut und Haaren für sich ein, ohne dass ich es merke, und flüstert mir unablässig zu:
Sag mir, strahle ich nicht etwas Liebliches aus? Etwas Ruhiges? Behäbigkeit? Und Beschaulichkeit und Anmut? Und erinnere ich nicht damit immer wieder, gerade in der heutigen Zeit: Eile mit Weile? Ist es nicht das, was alle so an mir schätzen und mögen, wenn sie ankommen vor meinen Türmen und Toren, um mich zu bestaunen? Aber das alles weiß ich. Ich bekomme es schließlich täglich aufs Neue bestätigt, wenn ich ihren Gesprächen lausche. Und wenn ich dann sehe, wie zur Winter- und Weihnachtszeit, wenn ich meinen Zauber besonders großzügig verströme, die Busse sich zu Hunderten vor meinen Toren drängen und massenhaft Menschen herbeibringen, weil gerade in dieser Zeit spürbar ist, was ich in mir berge, macht es mich schon ein bisschen stolz und selbstverliebt. Verbindet diese Menschen alle doch eine ganz bestimmte Sehnsucht: die Sehnsucht nach Geborgenheit nämlich. Nach einer heimeligen Glückseligkeit einer längst vergangenen Zeit. Hier wissen sie sie zu stillen, und sei es nur für ein paar wenige Stunden. Egal, welche Versprechungen der Zeitgeist ihnen macht, hinter meinen Mauern können sie ungeniert alten Sehnsüchten nachhängen und die Seele darinnen verweilen lassen.
Manche von ihnen kommen gar arg gestresst an. Sind ungeduldig und hektisch von dem, was die Zeit ihnen heute tagtäglich abverlangt. Es ist nicht die meine Zeit!, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen. Einige haben von vornherein kaum Zeit für die Zeit, die sie benötigten, um meinen Liebreiz auch nur annähernd wahrzunehmen, weil der Bus sie schon bald wieder zurückkarrt in ihren Alltag. Andere wiederum sind meinem Reiz mehr zugetan, nehmen sich einfach die Zeit und stimmen sich schon über die Fahrt durchs romantische Taubertal auf mich ein. Und dann gibt es jene, die immer wieder kommen, Jahr für Jahr, weil auch sie sich haben infizieren lassen von meiner Lieblichkeit. Genau wie auch du dich hast infizieren lassen, Amelie, nicht wahr? Ihnen allen ist eines gemein: Sie lieben Romantisches. Wie sie überhaupt Vergangenes noch einmal schauen möchten, das es anderenorts längst nicht mehr gibt. Aber sie kommen nun mal nicht aus der Zeit, als Romantisches noch aus jedem Mauerritz sprach - wie sollten sie die Zeit auch aufhalten oder gar anhalten können, oder den Zeitgeist einfach im Boden verschwinden lassen -, sondern sie kommen aus der heutigen Zeit, die sie mit dem prägt, was in dieser angesagt ist. Sie alle möchten nur eins: ein Stück Romantik und Mittelalter nachfühlen und schauen können.
Voilà!, das könnt ihr gerne haben, hauche ich ihnen dann zu, ohne dass sie es merken. Und wenn sie meine Stadttore eiligst erst einmal passiert haben und sich hinter meinen wuchtigen Mauern befinden und schon ungeduldig darauf drängen, meine Schätze zu schauen, ermahne ich all diese betriebsamen und modernen Menschen - wiederum, ohne dass sie es merken würden -, ihre Unruhe doch zu zügeln und sich meiner Gemächlichkeit hinzugeben. Wenn sie dann ein paar Stunden später durch eines meiner Tore wieder gehen, sehe ich ihnen deutlich an, dass sie durchaus empfänglich sind für Gemächlichkeit und Eile mit Weile für sie nicht einfach irgendein verstaubter Spruch ist.

Hier sind sie, meine Schätze! Zeige sie ihnen, mein wertes Fräulein.
Mein wertes Fräulein?? - Ja Amelie, ich sehe es dir wohl an, was du denkst. Guckst hochmütig und spöttisch auf mich herab, wenn du solch eine altmodische Redewendung hörst, und fängst an zu kichern. Aber ich bediene mich eben mal hin und wieder gern dieses Sprachstils. Nicht zuletzt, weil er wunderbar zu mir passt. Und es stört die Besucher keineswegs, wenn ich hier und da längst nicht mehr gebräuchliche Worte hervorkrame und benutze. Im Gegenteil! Ihnen gefällt es. Das eine passt zum andern, und in dieser Stimmigkeit bekommen sie beides zusammen wahrscheinlich nicht mehr geboten. (...)


Leseprobe aus: "Die Seelengespielin. Ein Roman um das weltbekannte Rothenburg ob der Tauber" von Anne Schneider
In Rothenburg, das durch sein mittelalterliches Stadtbild Touristen aus aller Herren Länder anzieht, lebt eine junge Frau namens Amelie, die insofern außergewöhnlich ist, als sie sich Meisterin der Gegensätze nennt. Sie beschäftigt sich mit Aberglauben einer gottesfürchtigen Zeit. Ihre Vorfahren, wegen ihres Handwerks einstmals allesamt "Unehrenhafte", haben ihr den Hang zum Aberglauben vererbt, genauso, wie die roten Haare. Andererseits ist sie mit so brisanten Dingen vertraut wie Aktien, Börse und Weltmärkten.
Eines Nachts sieht Amelie ihren Vorfahren im Traum das Richtschwert schwingen. Die erstarrten Augen des abgeschlagenen Kopfes verfolgen sie, zumal die Hinrichtung unrechtens war. Sie führen sie zu dem Nachkommen des Gerichteten: Arno von Winterhausen. Dessen Vorfahren, und mit ihnen der Gerichtete, hatten maßgeblichen Anteil am Dornröschenschlaf der Stadt, den sie wohl berechnet bis heute schläft. Sowohl des Freiherrn als auch Amelies Blick zerren etwas an die Oberfläche, das beiden Unbehagen bereitet. Jedem auf seine Art. Sie meidet ihn. Er ist trotz des Unbehagens von ihrer Schönheit angetan. Amelie lässt seine Annäherungsversuche unbeantwortet, leugnet ihre Abstammung und damit die unrechtmäßige Hinrichtung seines Ahnen. Daraufhin treibt er ein böses Spiel mit ihr. Er stellt ihr Bild wirkungsvoll neben einer mittelalterlichen Hinrichtungsszene platziert ins Internet und schreibt, die Abgebildete, Hexe und Henkerstochter in einem, wäre zu besehen. Zusammen mit den Hinrichtungsutensilien ihrer Sippe wäre sie da zu besehen, wo sich das Mittelalter bis heute gehalten hat: in Rothenburg ob der Tauber.
Das wirkt. Die Fantasien sind schnell geweckt in den Köpfen und treiben wild ihre Blüten. Zumal, wenn es sich um einen altertümlichen Ort wie diesen handelt. Amelie, einstmals als Baby von ihrer Mutter ausgesetzt wegen deren Scham über ihre Herkunft, hat mit ihren inzwischen zweiunddreißig Jahren ein starkes Selbstbewusstsein aufgebaut. (tredition, 2009. 336 Seiten.)
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