Viktorija Tokarjewa: "Eine Liebe fürs ganze Leben"


Liebe und Wahrheit (aber vor allem andere Zustände) in Zeiten der Perestroika.
Die triste Geschichte einer starrsinnigen Frau, die immer wieder auf sich allein gestellt ist.


Erzählt wird ein Großteil der Lebensgeschichte der Russin Irina Iwanowna Gusko, geboren in Baku, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, die teils aus Starrsinn, teils durch die herrschenden Umstände, nicht und nicht aus diversen Schwierigkeiten herausfindet oder sogar gleichermaßen zielsicher wie blindlings auf immer neue Fehlschläge zusteuert.
Schon von Kindesbeinen an tritt nämlich Irinas Eigensinn zu Tage, der ihr immer wieder Hindernisse in den Weg legt und ihr berufliches Fortkommen ebenso wie das private Glück zu verunmöglichen scheint.
Für alle Zeiten? Nun, das bleibt dahingestellt, da die Erzählung ein offenes Ende aufweist und sozusagen in einer Atempause an einem neuen Wendepunkt abbricht.

Irina heiratet jung den wenig attraktiven, sexbesessenen Wolodka ("... er hatte was von einem Krebs"), neun Monate nach der Hochzeit gebiert sie ihr erstes Kind, Sascha. Sie studiert und arbeitet schließlich als Lehrerin.
Zehn Jahre später, die Kluft zwischen den Eheleuten hat sich erwartungsgemäß vergrößert, Wolodka geht seiner eigenen Wege. Er hat eine Armenierin als Geliebte, bei der er viel Zeit verbringt. In einem fatalen Versuch, die Ehe zu kitten, wird Irina erneut schwanger und bringt Sneshana zu Welt. Der nach wie vor untreue Ehegatte wird von Irinas Bruder verprügelt, woraufhin er Frau und Kinder endgültig verlässt und zur Geliebten zieht.

Irina hatte und hat es weiterhin nicht leicht, sie ist 32 Jahre alt und muss den Lebensunterhalt für sich und ihre beiden Kinder verdienen. Ihre Erfahrungen haben ihren Starrsinn verstärkt, Irina ist zäh und unerbittlich geworden, ein wahres Stehaufmännchen, nur bei Weitem nicht so harmlos: Ihre Angehörigen vergleichen sie mit einem Bison, der alles zertrampelt ...
Als sich die vom Leben Enttäuschte bereits damit abgefunden hat, dass das Thema Liebe endgültig erledigt sei, tritt der um sechs Jahre jüngere, schöne Aserbaidschaner Kjamal in ihr Leben.
Er ist Irinas große Liebe, und die beiden genießen ihr Glück mit Ablaufdatum.

Ja, man ahnt es bereits, das Glück kann für Irina nicht lange währen. Kjamals Mutter sucht und findet schließlich eine passende Frau für den Sohn, und Irina, die Andersgläubige, wird niemals offiziell die erste Geige an Kjamals Seite spielen dürfen.
Als Irina 42 Jahre alt ist, heiratet der 36-jährige Kjamal also die zwanzigjährige Irada - verheimlicht seiner Geliebten dies jedoch lange Zeit, bis Irina eines Tages durch einen Anruf erfährt, dass Kjamal eine Ehefrau und einen herzkranken Sohn hat. Allerdings tun Kjamal und Irina weiterhin so, als sei alles unverändert, und verbringen viel Zeit miteinander. Doch der Riss lässt sich nicht leugnen, die Unbeschwertheit gehört der Vergangenheit an, Lügen und Unausgesprochenes verströmen ihr Gift.
Auch Irinas Kinder entwickeln sich nicht "wunschgemäß": Sascha geht nach Moskau und heiratet eine faule "Schnapsnase" namens Ljudka, die hübsche Sneshana verliebt sich in zwielichtige Gestalten, brennt mit Oleg, einem Taugenichts, durch und gebiert eine Tochter, die sie einige Zeit später einfach bei Irina "abgibt". Diese Enkeltochter wird Irinas neuer Lebensmittelpunkt.
Bevor die beiden zur Zeit der Perestroika von Baku nach Moskau flüchten müssen, weil die Russen aus Aserbaidschan vertrieben werden, findet eine klärende Aussprache mit Kjamal statt; die Trennung ist unvermeidlich.

Da steht sie nun, die vom Leben Enttäuschte, mit dem Erlös aus dem Verkauf ihrer Wohnung in Baku, mit Alja, der abgöttisch geliebten Enkelin. Wohin sollen sie gehen? Willkommen ist Irina weder bei der Tochter, die inzwischen geheiratet hat und mit ihrem Mann, einem Automechaniker, der in verbrecherische Machenschaften verwickelt ist, in bescheidenen Verhältnissen lebt, noch bei der Familie ihres Sohnes, weil Irina die störende Angewohnheit hat, sich überall und in alles besserwisserisch einzumischen.
Irina will stets das Beste für ihre Kinder, erreicht mit ihrem unerträglichen "Bison-Benehmen" jedoch in erster Linie, dass sie sich einsam und unverstanden fühlt und sich über den Undank der Kinder grämt.
Die bestimmende Irina verliert all ihr Geld, sei es durch erfolglose Investitionen ihrer Kinder, Diebstahl oder Bankrott des Geldinstituts, muss sich als Putzfrau durchschlagen, wobei ihre selbstherrliche Art erneut für Schwierigkeiten sorgt, und als eines Tages Kjamal mit seinem herzkranken Sohn in Moskau auftaucht und Irina um Geld für die unmittelbar bevorstehende Herzoperation bittet, wird sie selbst (aus Liebe?) zur Diebin und setzt damit ihr Refugium bei einer wohlhabenden Kardiologin aufs Spiel ...

Das Erstaunliche an dieser Erzählung, deren deutscher Titel nicht unbedingt ins Schwarze trifft, ist, dass und wie geschickt es die Autorin zuwege bringt, mit wenigen Sätzen langfristige Entwicklungen, gesellschaftliche Zustände und persönliche Befindlichkeiten auf den Punkt zu bringen oder auch zu umreißen, sodass man sich während der Lektüre gelegentlich wundert, erst beispielsweise auf Seite 50 angelangt zu sein - denn man hat dabei das Gefühl, bereits wesentlich mehr erfahren zu haben, als man auf 50 Buchseiten vermutet hätte, und das ist immerhin etwas.

(S. Gabriel)


Viktorija Tokarjewa: "Eine Liebe fürs ganze Leben"
(Originaltitel "Svoja pravda")
Aus dem Russischen von Angelika Schneider.
Diogenes.
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Ein weiteres Buch der Autorin:

"Leise Musik hinter der Wand"

"Wer sagt denn, dass es eine echte Liebe nur einmal im Leben geben kann? Irgendjemand hatte das gesagt. Aber er hatte sich geirrt."
Ob Agent beim KGB oder Dissident, Ada liebt in einem Mann immer nur den Menschen. Die Geschichte einer Frau, die nie aufhört, an das Glück zu glauben.
Adas Großeltern mussten in der Sowjetunion ihre adlige Herkunft verheimlichen und haben doch Haltung bewahrt (und einen Teil des Familienschmucks). Adas Mutter ist eine begabte Sängerin am Bolschoitheater. Und Ada selbst? Ada hatte keine klar ausgeprägten Talente, außer dem Talent zu gefallen. Sie gefiel allen ohne Ausnahme: den Jungen und den Alten, den Klugen und den Dummen, den Katzen und den Hunden, den Militärs und den Bürokraten. Ada hatte auch keine besonderen Neigungen. Sie wollte lieben und geliebt werden und mehr nicht. Die Zeiten ändern sich: Die Perestroika hält Einzug, die Sowjetunion zerfällt, die Ära eines mafiösen Kapitalismus bricht an. Doch Ada bleibt Ada - mag auch der Gegenstand ihrer Liebe wechseln ... (Diogenes)
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