Madeleine Thien: "Jene Sehnsucht nach Gewissheit"


Wo kommen wir her? Wer waren meine Vorfahren, welche Geschichte haben sie erlebt, und was hat sie mit mir zu tun? Welche Kräfte, mir bewusste und noch mehr meinem Bewusstsein nicht zugängliche, wirken aus der Vergangenheit auf mich ein? Besonders aus den Teilen der Vergangenheit, die unklar, mit Schuld beladen und dunkel sind. Seit der Psychoanalyse Sigmund Freuds wissen wir, dass Vergangenes so lange in der Psyche wiederkehrt, bis es bearbeitet und bewältigt ist. Aus der Familietherapie kennen wir aus den von Bert Hellinger entwickelten Familienaufstellungen, so umstritten sie auch sein mögen, die enorme Kraft von Familiensystemen auf das Leben der Menschen.

In der Regel leben wir ohne rechte Erinnerung an unsere Familienvergangenheiten. Fotoalben zu erstellen, sie zu beschriften und sie zusammen mit seinen Kindern immer wieder anzuschauen und die dazu passenden Geschichten und Anekdoten zu erzählen, diese Tradition mutet im Zeitalter der Digitaltechnik antiquiert an. Der Rezensent allerdings hält an dieser Tradition fest, seit er selbst im späten Lebensalter Vater eines kleinen Sohnes geworden ist.

Die Autorin des vorliegenden Buches "Jene Sehnsucht nach Gewissheit", eines beeindruckenden Erstlingswerkes, hat sicher viele biografische Erfahrungen in ihren Roman eingearbeitet. Sie versucht zu schreiben in einer "Sprache, in der deine Mutter dich liebte", und ihr gelingt dieses Kunststück auf das Allerbeste. Sie schreibt mit einer Hingabe und gedanklichen Tiefe, die den Leser durchgehend fesselt und sehr bewegt. Das Buch erzählt von der verzweifelten Suche nach menschlichen Grundwahrheiten mitten in einer sehr persönlichen Trauerarbeit.

"In der Zeit, die die Zukunft hätte gewesen sein sollen", (mit diesen Worten beginnt das Buch), suchen die Hinterbliebenen einer plötzlich verstorbenen Rundfunkjournalistin nach einer Neuorientierung in einer Welt, die ihnen sinnlos geworden ist.
Madeleine Thien gelingt es, sich sehr sensibel in die Gefühlswelt von Trauernden hineinzudenken mit einer Sprache, wie ich sie so schon lange nicht mehr gelesen habe. Sie schafft es in Seelenlandschaften vorzudringen, von denen man glaubt, dass sie für Sprache kaum einen wirklichen Zugang haben.

Die Autorin durchdringt Schicht für Schicht die Vergangenheit der einzelnen Figuren. Das Leben der verstorbenen Journalistin und deren Wunsch nach Aufklärung in Familie und Beruf werden genauso aufgearbeitet wie das Leben der hinterbliebenen Eltern, deren Auseinandersetzung mit dem Tod der Tochter vor allem in die eigene Vergangenheit führt.

Ihre Figuren und wohl auch sie selbst bewegt "die Hoffnung, dass unser Wissen uns zu guter letzt erlösen wird, dass wir finden, das bleibt, auch noch im unendlichen, ungewissen Jenseits."

Wer je einmal an einer Familienaufstellung teilgenommen und sich selbst eingebracht hat, wird bestätigen, dass in diesem Rückblick, dem Nachgeben der "Sehnsucht nach Gewissheit" ein Versöhnungs- und Erlösungspotenzial liegt, das etwa die christlichen Kirchen noch gar nicht hinreichend begriffen haben.

Einstein, mit dem Madeleine Thien ihr Buch einleitet, wusste davon:
"Denn für uns überzeugte Physiker ist die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige."

(Winfried Stanzick; 06/2007)


Madeleine Thien: "Jene Sehnsucht nach Gewissheit"
(Originaltitel "Certainty")
Aus dem Kanadischen von Almuth Carstens.
Luchterhand Literaturverlag, 2007. 303 Seiten.
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Madeleine Thien wurde 1974 in Vancouver, British Columbia, geboren. Ihre Eltern stammen aus Malaysia und China und emigrierten in den 1960-Jahren nach Kanada. Als Kind begann Thien mit Ballett, Stepptanz und Akrobatik, später studierte sie Tanz, wechselte dann 1994 über zu Literatur. Ihr erstes Buch "Einfache Rezepte", eine Sammlung von Kurzgeschichten, wurde mit vier kanadischen Literaturpreisen ausgezeichnet, und ihr Debütroman "Jene Sehnsucht nach Gewissheit" wurde in sechzehn Sprachen übersetzt. Im Jahr 2010 erhielt Madeleine Thien den "Ovid Festival Prize". Madeleine Thien lebt in Montreal.

Weitere Bücher der Autorin:

"Sag nicht, wir hätten gar nichts"

zur Rezension ...

"Flüchtige Seelen"
Madeleine Thien folgt den Erinnerungen, Verletzungen und Träumen ihrer Figuren aus dem Kanada der Gegenwart in den tropischen Dschungel Kambodschas in den 1970er-Jahren, als dort die Roten Khmer mit brutalem Terror und der Ermordung von Millionen von Menschen eine neue Gesellschaftsordnung errichten wollten. Mit klarer, sanfter Sprache erzählt sie vom Verlust und von der Wiedergewinnung der Menschlichkeit. (Luchterhand Literaturverlag)
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"Einfache Rezepte"
In wunderbaren, ergreifenden Geschichten spürt Madeleine Thien den oft krummen Wegen der Liebe nach. Mit wenigen Strichen fängt sie entscheidende Szenen des Familienlebens ein, ob in der Kindheit oder bei Erwachsenen, und zeigt erschreckend klar, wie Nähe, Vertrauen und Zuneigung den Menschen erst empfänglich machen für den Schmerz. (btb)
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