Susanna Tamaro: "Erhöre mein Flehen"


Kaum ein Buch hatte in den 1990er-Jahren einen solchen Erfolg wie das 1994 erschienene, in 42 Sprachen übersetzte und weltweit über 12 Millionen Mal verkaufte "Geh, wohin dein Herz dich trägt", jener lange, anrührende Brief einer Großmutter an ihre Enkelin, den sie schrieb, nachdem die Enkelin nach langer Zeit des Streits die Großmutter verlassen hat und in die USA ausgewandert ist.
Einige Jahre später rümpfte manch ein Kollege und Freund seine intellektuelle Nase, als Susanna Tamaro ein Jahr lang für die katholische Zeitung "Famiglia Cristiana" wöchentliche Kolumnen schrieb, die später in Italien als Buch erschienen, das aber als einziges von Tamaros Büchern nicht in Deutschland veröffentlicht wurde.
Tamaro versuchte in diesen Zeitungsartikeln, ihre Sicht der Familie zu erläutern und zu begründen, warum es ihr extrem wichtig ist, deren Verfall und Missachtung aufzuhalten.
Als Susanna Tamaro in diesen Jahren immer wieder von den Lesern darauf angesprochen wird, ob und wie die Geschichte von damals weitergeht, ob die Enkelin den Brief der Großmutter je erhalten hat, wie wohl ihre Reaktion darauf war, und was mit der kranken Großmutter geschehen ist, begann sich Tamaro mehr und mehr selbst diese Fragen zu stellen und schrieb endlich im Jahr 2006 die lange erwartete Fortsetzung. Es ist ein Buch, das inhaltlich direkt an ihre Kolumnen in der christlichen Zeitung anschließt, ein Buch der spirituellen Suche nach einem durch das Leben tragenden Sinn in einer schon längst zertrümmerten Welt. Ein Roman, der durchaus autobiografische Züge trägt und der quälenden Frage nach den eigenen Wurzeln nachspürt.

Die Enkelin Marta aus dem ersten Buch ist aus den USA zurückgekehrt. Anfang zwanzig ist sie und steht ganz allein auf der Welt. Außer ihrer Großmutter, zu der sie zurückkehrt, hat sie niemanden mehr, so glaubt sie jedenfalls. Bevor die Großmutter stirbt, leben sie noch einige Monate zusammen, in denen Marta beginnt, sich ohne den früheren Groll und Streit um die sterbende Großmutter zu kümmern und sich ihrerseits an die Kindheit mit ihr erinnert. Und sie beginnt zu verstehen, was das komplizierte Verhältnis zwischen beiden all die Jahre ausgemacht hatte:
"Damals jedoch, in der Polarisierungswut der Adoleszenz, sah ich nur einen Teil der Wirklichkeit: die Auslöschung. Du hattest eine Tochter verloren und wolltest nicht an sie erinnert werden; gibt es einen deutlicheren Hinweis auf die Verderbtheit der Seele? Darüber hinaus war diese Tochter meine Mutter, die nach einem Leben voller Widersprüche früh gestorben war. Du hattest mir fast nichts von ihr erzählt."

Doch Marta hat auch nie nach ihrer Mutter gefragt. Das tut sie erst, als die Großmutter gestorben ist. "Wie war sie, wer war sie, was mochte sie - und vielleicht das Wichtigste für mich- warum hatte sie mich in die Welt gesetzt?"
Allein in dem Haus der toten Großmutter, beginnt Marta zu suchen und findet auf dem Dachboden die Tagebücher ihrer Mutter. Atemlos verschlingt Marta diese Aufzeichnungen, das Herz voller Schmerz. Sie liest von den siebziger Jahren, erfährt von Ängsten und Hoffnungen einer Frau, die, auf der Suche nach sich selbst, immer wieder an die falschen Freunde gerät, Erfahrungen mit Kollektiven und feministischen Gruppen macht und eine Abtreibung zu verkraften hat.
Auf diesen Seiten verarbeitet die Autorin viele eigene Erfahrungen. Sie hat die im Tagebuch von Martas Mutter beschriebene Zeit selbst in Rom miterlebt und mitansehen müssen, wie viele ihrer damaligen Weggefährten im Terrorismus und Drogenrausch endeten.
Doch sie distanziert sich von einer Entwicklung, die die Familie als Keimzelle der Unfreiheit und Unterdrückung denunziert und setzt in einem Interview entgegen: "Die Familie ist die Keimzelle, in der wir uns heranbilden. Die Familie mag heute noch so sehr bizarr und kaputt sein, sie ist und bleibt unsere persönliche und historische Erinnerung. Es ist sehr wichtig zu wissen, was geschehen ist. Unsere Vorfahren sind unsere Wurzeln. Wenn wir das vergessen, können wir nicht vorankommen."

Diese Haltung setzt Susanna Tamaro konsequent in "Erhöre mein Flehen" um. Aus den Tagebüchern erfährt Marta von ihrem Vater, einem Philosophieprofessor, der, zwanzig Jahre älter als ihre Mutter, diese sofort verlässt, als sie schwanger wird und sich weigert, noch einmal eine Abtreibung über sich ergehen zu lassen. Auch in diesem sehr bewegenden Teil des Buches verarbeitet Tamaro eigene Beziehungserfahrungen zu ihrem Vater.

Marta begibt sich auf die Suche nach diesem alten Mann und findet den Vater als einsamen und zynisch gewordenen Eigenbrötler, der aus seinem Intellektuellenturm nicht mehr herauskann. Doch Marta erfährt von ihm nicht nur von der Existenz eines Onkels, der während des Faschismus vor den Rassegesetzen nach Israel geflohen ist, sondern bleibt mit ihrem Vater bis zu dessen Tod bald darauf in Kontakt. Als er stirbt, ist sie auf dem jüdischen Friedhof die einzige Verwandte, die an seiner Beerdigung teilnimmt.

Sie bricht auf, um den Onkel zu suchen und erlebt eine ebenso aufregende wie bewegende innere Reise zu den Ursprüngen ihrer Unruhe, als sie ihn schließlich in Israel in einem Kibbuz findet.
Sie besucht die Gräber ihrer Ahnen und ist die ganze Zeit über im inneren Dialog mit der verstorbenen Großmutter. Marta beschließt, in deren Haus wohnen zu bleiben, es zurecht zu machen und neue Wurzeln zu schlagen. Während dieser Aufräumarbeiten findet sie beim Putzen in einem Schrank ein dickes Kuvert mit der Aufschrift "Für Dich".

Als sie abends, nachdem sie den Garten bewässert hat, in aller Ruhe zu lesen beginnt, ist sie zum ersten Mal mit Worten konfrontiert, die Millionen von Menschen vor Jahren sofort in ihren geheimnisvollen Bann schlugen:
"Du bist vor zwei Monaten abgereist, und seit zwei Monaten habe ich, abgesehen von einer Postkarte, auf der du mir mitteilst, dass du noch lebst, keine Nachricht von dir ..."

Susanna Tamaro hat ein zutiefst spirituelles Buch geschrieben, das viel mehr ist als eine Fortsetzung ihres vorangegangenen Erfolgswerks. Es zeugt von einer inneren Reifung und einem persönlichen Wachstum, an dem der aufmerksame und für Tamaros Philosophie offene Leser auf fast jeder Seite teilhaben kann. Es ist nur wünschen, dass möglichst viele der damals begeisterten Leser Tamaros Weg in die Tiefe der Suche nach den Wurzeln mitzugehen bereit sind.

"Erhöre mein Flehen" ist in bewegendes und nachdenklich machendes Buch, das einen nicht unberührt zurücklässt und sehr lange nachklingt.

(Winfried Stanzick; 08/2007)


Susanna Tamaro: "Erhöre mein Flehen"
(Originaltitel "Ascolta la mia voce")
Aus dem Italienischen von Maja Pflug.
C. Bertelsmann, 2007. 221 Seiten.
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Hörbuch:
Gesprochen von Katharina Wackernagel.
Random House Audio, 2007. 4 CDs; Laufzeit ca. 300 Minuten.
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Susanna Tamaro wurde am 12. Dezember 1957 in Triest geboren und ist die Großnichte von Italo Svevo. Seit ihrem Welterfolg "Geh, wohin dein Herz dich trägt" gehört sie zu den bekanntesten Gegenwartsautoren Italiens. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Lien zur Netzseite der Autorin: http://www.susannatamaro.it/.

Zwei weitere Bücher der Autorin:

"Geh, wohin dein Herz dich trägt"

Drei Generationen von Frauen Jahrhundert ziehen vor dem inneren Auge des Lesers vorbei, während er das Vermächtnis von Olga an die aus der Enge der Familienzwänge nach Amerika geflohene Enkelin liest: ein Brief-Tagebuch, das schöne und schmerzliche Erinnerungen enthält, Weisheit des Alters, vor allem aber das im Angesicht des Todes ausgesprochene Geständnis der tiefen Liebe zur Enkelin. (Diogenes)
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"Mein Herz ruft deinen Namen" zur Rezension ...