George Tabori: "Mutters Courage"

Gelesen von Senta Berger
(Hörbuchrezension)


Elsa Tabori möchte ihre Schwester besuchen, um mit ihr und Freunden ein Rommeespiel zu bestreiten. Doch es wird sich um einen Tag verzögern. Die knapp 60-jährige Frau wird nämlich plötzlich verhaftet und gemeinsam mit über 4000 weiteren Juden in Viehwägen in die unvermeidbare Vernichtung verbracht. Schon in der Straßenbahn in Budapest erhält sie die unwahrscheinliche Möglichkeit, einfach abzuspringen und sich aus dem Staub zu machen. Doch die Frau bleibt sitzen und landet inmitten verschiedenster Individuen im Viehwagen. Eine Zwölfjährige beteuert immer wieder, sie wäre eine Frau. Der Hintergrund dieser ständigen Beteuerungen ist tragisch. Sie wurde nur wenige Stunden vorher vergewaltigt.

Ein Mann steht hinter der Frau und ertastet ihre Brüste. Es kommt zu sexuellen Handlungen. Elsa erinnert sich daran, wie sie vor acht Jahren zuletzt mit ihrem Mann der Lust gefrönt hatte. Seitdem war sie sexuell enthaltsam.

Dann landet sie an einer Zwischenstation. Der Zug soll bald schon weiter nach Auschwitz fahren. Elsa fühlt sich nackt und allein, als sie in einer Spelunke landet und dort einem merkwürdigen Freund ihres Vaters begegnet, der ihr versichert, dass sie hier fehl am Platz sei. Er drängt sie durch eine Glastür, Elsa gelangt auf eine weite Ebene und geht zwei Offizieren entgegen, welche die Ankunft der Frau schon von weitem herankommen sehen. Einer der beiden lacht immer wieder und versucht, die Frau zu beleidigen, während der Ranghöhere ihn immer wieder ermahnt, dieses Benehmen zu unterlassen. Elsa Tabori erzählt eine Lügengeschichte von einem Schutzpass, die ihr der zuständige Offizier nicht glaubt. Er gestattet ihr dennoch, einen Zug zu besteigen, der sie zurück nach Budapest fahren soll. Sie könne eine warme Mahlzeit auf dem Weg nach Hause einnehmen. Sollte sie aber gelogen haben, dann würde sie wohl wissen, was sie erwarte, sagt er dann noch. Elsa sieht, wie der andere Zug in Richtung Auschwitz abfährt.

Elsa hat unglaubliches Glück. Der junge Mann, der sie bewachen soll und ihr auch die warme Suppe bringt, stellt sich als erstaunliches Exemplar eines Soldaten heraus. Er ist Vegetarier und möchte weder einem Tier noch einem Menschen etwas zu Leide tun. Er ist einer der merkwürdigsten Soldaten im Dienst, welche wohl in der nicht-fiktiven Geschichte des Krieges geschildert worden sind. Als der Zug in wenigen Minuten in Budapest eintreffen soll, sagt er Elsa Tabori, dass er sie unverzüglich zur Polizei zu bringen habe, wo festgestellt werden soll, ob ihre Angaben, die sie dem Offizier gemacht hat, auch stimmten. Allerdings müsse er jetzt dringend zur Toilette, und insofern er nicht rechtzeitig zurückkäme, bräuchte sie nicht auf ihn zu warten. Der Mann rettet ihr Leben, indem er so lange verschwindet, dass sie, obzwar sie am Bahnhof sogar einige Minuten auf ihn wartet, bald anstatt im Gefängnis zu sitzen, mit einem Tag Verspätung die üblichen Rommeepartien im Hause ihrer Schwester spielen wird. Die Mitspieler zeigen sich keineswegs verwundert.

George Tabori erzählt mit viel Witz und Pointenreichtum die ungewöhnliche Geschichte der Rettung seiner Mutter vor den Todeshäschern. Sozusagen als Zugabe werden dann auch noch die Hintergründe der Geschichte beleuchtet. Es wurden nämlich Aufzeichnungen von Elsa Tabori gefunden, und ihr Sohn George hat noch zu Lebzeiten der Mutter eine vierseitige Erzählung über jene Vorkommnisse geschrieben, welche in vorliegendem Hörbuch wunderbar von Senta Berger interpretiert werden. Beim Durchlesen der Geschichte musste Elsa Tabori immer wieder lachen. Sie sei etwa keineswegs im Zug vergewaltigt worden, und auch bei so manch anderem Detail habe ihr Sohn George dichterische Freiheit walten lassen. Doch im Großen und Ganzen entspricht die Erzählung freilich der Wahrheit. Elsa Tabori entkam mit viel Glück dem Schicksal, das so viele Juden ertragen mussten. Sie wurde später auch von guten Menschen versteckt, wovon die Erzählung "Gelber Stern" handelt. George Tabori hat seine Mutter auf wunderbare Weise geschildert. Ihr Tod kam letztlich unerwartet. Sie wurde in das falsche Spital verbracht, und auf den Weg in die richtige Klinik verstarb sie. Mit dieser Erzählung hat George Tabori seiner Mutter ein kleines Denkmal gesetzt. Es ist die Darstellung eines Schicksals, das gut ausgegangen ist. Die Vielzahl der Menschen, die in Viehwägen zu den Vernichtungslagern verbracht worden sind, wurden auf bestialische Weise ermordet. Einige Wenige hatten Glück. Elsa Tabori war sich dessen stets bewusst und nahm ihr eigenes Entkommen nicht zum Anlass, jenen Menschen zu vergeben, welche über 80 enge Mitglieder ihrer Familie ermordeten.

(Al Truis-Mus; 04/2006)


George Tabori: "Mutters Courage"
Verlag Klaus Wagenbach, 2006. 1 CD; Spieldauer 70 Minuten.
Hörbuch bei amazon.de bestellen
Buch:
Verlag Klaus Wagenbach, 2003. 96 Seiten.
Aus dem Amerikanischen von Ursula Grützmacher-Tabori.
Buch bei amazon.de bestellen

George Tabori, am 24. Mai 1914 in Budapest geboren, emigrierte zwanzigjährig nach London, wo er als Schriftsteller debütierte. In den 1950er Jahren arbeitete er in England und den USA für das Theater und den Film. 1969 kehrte er nach Europa zurück und inszenierte, auch mit eigenen Ensembles, an renommierten Bühnen. Tabori erhielt für sein Schaffen zahlreiche Preise, darunter 1992 den "Georg-Büchner-Preis".
George Tabori starb am 23. Juli 2007 im Alter von 93 Jahren in Berlin.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Autodafé. Erinnerungen"

Die Lebenserinnerungen Taboris sind Meisterstücke seiner Erzählkunst.
Autodafé, zu Zeiten der Inquisition "Ketzerverbrennung", erzählt eine "Familienromanze" besonderer Art: die Geschichte der jüdischen Familie Tabori.
Wie jede ordentliche Familiengeschichte fängt sie mit der Geburt des Erzählers an, am Sonntag, dem 24. Mai 1914, in Budapest. Und wie es sich ebenfalls gehört, treten zunächst Frauen in das Leben des kleinen George: die handfeste Großmutter Fanny, die beinfeste Alma von O. und vor allem die Mama, eine freundliche, stille Frau, mit der der Erzähler seine aussichtslose Leidenschaft für bejahende Frauen erklärt. Dann erst kommen der Bruder Paul, der den Säugling mit den Worten "Ich schmeiße ihn in die Donau" begrüßt; und der Vater, ein gebildeter Journalist, der von der Kriegsberichterstattung zurückkommt. In Schnäuzer im Fenster erinnert sich Tabori an seine Berliner Zeit (1932-33) im Hotel Hessler, wo er eine Hotelkarriere beginnen sollte. (Verlag Klaus Wagenbach)
Buch bei amazon.de bestellen

"Meine Kämpfe"
Niemand schrieb so über Auschwitz wie Tabori.
In seiner schwarzen Prosa-Farce erfand er eine unglaubliche Symbiose zwischen einem jüdischen Hausierer und Adolf Hitler in einem Wiener Männerwohnheim - ein wahnwitziger Text, in dem die wuchernde Sprache die Schranken des Ordentlichen einfach niedertritt.
Nachts ist Schlomo Herzl unterwegs und verkauft Bücher (zum Beispiel die Bibel), am Tag sitzt er im Asyl in der Blutgasse am dickbauchigen Ofen mit Heft und Bleistiftstummel und disputiert - Kritiker und Dichter in einem - über den ersten und einzigen Satz des Buchs, das er schreiben will: Mein Kampf.
Da geht die Tür auf, ein ungehobelter Geselle namens Hitler tritt herein und macht sich in Schlomos Reich breit. Dieser Hitler, blauäugiger Bettelstudent in den Flegeljahren, bildet sich ein, er müsse auf die Kunstakademie gehen. Um die Nervensäge loszuwerden, gibt ihm Schlomo nicht nur moralische Unterstützung: er bringt auch Hitlers Aussehen in Façon, leiht ihm seinen Wintermantel und stutzt ihm den Bart zurecht - doch der lässt die nötige Dankbarkeit vermissen. (Verlag Klaus Wagenbach)
Buch bei amazon.de bestellen