Stendhal: "Rot und Schwarz"

Chronik aus dem 19. Jahrhundert


Rührseliger Realist

Selten ist eine Übersetzung so enthusiastisch gelobt worden wie die des (bereits im Jahre 2004 bei Hanser vorgelegten) Romans: "Man weiß nicht, was man an dieser Ausgabe mehr bewundern soll: Elisabeth Edls kenntnisreichen Kommentarteil oder ihre Übersetzung" (Daniel Kehlmann) - und selten hat jemand für eine Übersetzung gleich mehrere Preise und Auszeichnungen erhalten (u.a. von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung). Die vorliegende Übersetzung beruht auf der zweibändigen Erstausgabe von 1830, wobei auch frühere deutsche Übersetzungen verglichen wurden. Im Anhang findet sich übrigens auch Stendhals Selbstrezension von 1832, außerdem sind hier Verständnishilfen für deutsche Leser enthalten "zum werk- und lebensgeschichtlichen Hintergrund Stendhals sowie zu dem besonders wichtigen geschichtlichen, politischen und sozialen Kontext."

Edl verweist darauf, beim Übersetzen "die unterschiedlichen Stillagen" nicht verwischt zu haben, einerseits den "nüchternen, fast kargen Realismus", andererseits der "romantische Überschwang in Dialogen" und in "Szenen mit Frauen". Überdies wurde "der Sprachstand von Stendhals deutschsprachigen Zeitgenossen zugrunde gelegt." Henri-Marie Beyle, wie Stendhal mit bürgerlichem Namen hieß, brachte kurz nach der Revolution und der Manifestation des Machtantritts des Bürgertums den ersten "realistischen", aktualitätsbezogenen Gesellschaftsroman heraus. Es ist auch eine Kehrtwendung gegen den klassischen Entwicklungsroman, dessen ideologische Basis war, dass das (bürgerliche) Individuum durch Talent und Leistung seine soziale Position bestimmt.

Immerhin hat der greise Goethe das Buch noch gekannt und gelobt, obschon eben der Emporkömmling aus der Provinz, Julien Sorel, Sohn eines Sägewerkbesitzers, bei seinem Aufstieg in die höhere Klasse scheitert, weil er von Idealen lebt, die in der Restaurationsepoche ihre Gültigkeit verloren haben. Erziehung besteht nur noch darin, die soziale Mimikry vollkommen zu beherrschen und sie für die eigenen Ziele einzusetzen, wobei Mitmenschen nur Instrumente des eigenen Aufstiegs sind. So wie für Stendhal sein Vater die Heuchelei und Verlogenheit des Bürgertums verkörperte, gilt sein Kampf zeitlebens der bornierten Welt der Bourgeoisie. Der Roman ist ebenso modern, wie er an den Sturm-und-Drang (Lenz, Der Hofmeister) erinnert: Sexualität als Mittel der Auflehnung, der Selbstentfaltung und womöglich auch zum gesellschaftlichen Aufstieg. Die Inspiration zu diesem Roman kam von einem Gerichtsprozess, in dem ein junger Hauslehrer guillotiniert wird, nach dem Mordversuch an der Frau des Hausherrn. Sorel verstrickt sich entsprechend zwischen Liebe (Rouge) und Tod (Noir).

Von seinem Vater als "Bücherwurm" und Tölpel beschimpft und verprügelt, wird der 19jährige Julien im Ersten Buch Hauslehrer beim Bürgermeister Rênal. Julien hat Rousseaus 'Bekenntnisse' gelesen und das Neue Testament auf Lateinisch auswendig gelernt. Auch ist ihm alles recht, um von zuhause fortzukommen: "Alles, was er hier sah, lähmte seine Fantasie." Der Bürgermeister verspricht, ihm später behilflich zu sein, "eine kleine Stellung zu erlangen" und verweist darauf, "welchen Vorteil es hat, in das Haus besserer Leute zu kommen." Als Madame de Rênal ihm Geldgeschenke machen will, reagiert Julien allergisch: "Ich bin von niederer Herkunft Madame, aber ich bin nicht niedrig." Die Frau Bürgermeisterin und der Hauslehrer - da entwickelt sich eine halsbrecherische Liaison - die Frage ist natürlich: ist das nicht eine kitschige Seifenoper: "In diesem ständigen Wechsel von Liebe, Reue und Lust vergingen ihm die Tage schnell wie der Blitz."

Sorel muss ins Priesterseminar, wo er das Problem bei sich entdeckt, dass er denkt und nicht zum "inbrünstigen und blinden" Glauben fähig ist. Überdies gibt der auktoriale Erzähler noch den Kommentar: "Das Glück besteht für diese Seminaristen wie für die Helden in Voltaires Romanen vor allem darin, gut zu essen." Von seinem Abbé Pirard wird er an den Marquis de la Mole als Sekretär empfohlen. Im Zweiten Buch gelangt Sorel dann tatsächlich nach Paris, dem "Zentrum von Intrige und Heuchelei", er findet hier "kalte und stolze Eitelkeit." Eines Tages erhält er "armer Bauer eine Liebeserklärung von einer feinen Dame"! Nämlich Mathilde, der Tochter seines Marquis. Es dauert viele Kapitel, bis die beiden zusammenkommen und Mathilde schließlich ihrem Vater ihre Liebe zu Julien gesteht - statt durch Heirat eine Herzogin zu werden. Der Marquis versucht notgedrungen Julien gesellschaftlich aufzuwerten - schießt auf Madame Rênal, seine eigentliche große tragische Liebe, und kommt ins Gefängnis.

Den folgenden Prozess versucht Julien gesellschaftspolitisch umzudeuten: sein Verbrechen sei, dass er versucht habe, in die bessere Gesellschaft aufzusteigen, dabei werde er auch nicht von seinesgleichen gerichtet: "Ich sehe auf der Geschworenenbank keinen einzigen reich gewordenen Bauern, sondern nur empörte Bürger." Schließlich wird er zum Tode verurteilt, aber Madame de Rênal erscheint selbst im Gefängnis, verzeiht ihm und reicht seine Berufung weiter. Julien wird jedoch enthauptet - und drei Tage später Madame de Rênal ebenso. Wenn das nicht herzergreifend ist?! In seiner unter Pseudonym selbst verfassten Rezension bemerkt Stendhal: "Dieser Roman ist kein Roman. Alles, was er erzählt, hat sich 1826 in der Gegend von Rennes wirklich ereignet." So hat dieser Roman heute seinen soziologischen, historischen und moralischen Wert - er hat zwar sehr rührselige Passagen, aber dafür wenigstens kein kitschiges Ende.

(KS; 12/2006)


Stendhal: "Rot und Schwarz"
(Originaltitel "Le Rouge et le Noir")
Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl.
dtv, 2006. 872 Seiten.
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Stendhal, am 23. Jänner 1783 in Grenoble als Henri Beyle geboren, ist neben Balzac und Flaubert der bedeutendste Realist französischer Sprache. Sein Pseudonym wählte er nach der Geburtsstadt Winckelmanns: Stendal bei Magdeburg. Mehrere Jahre als Offizier in Diensten Napoleons, lebte er nach dessen Sturz ab 1814 in Mailand, im "Land der Freiheitsliebe". 1821 von der österreichischen Regierung angewiesen, kehrte er zurück. Weitere Werke: "Über die Liebe" (1822), "Die Kartause von Parma" (1839), "Lucien Leuwen" (posthum 1894).
Zeitlebens nur als Verfasser von Reisebeschreibungen bekannt, prophezeite Stendhal: "Ich werde um 1900 gelesen werden". Er sollte recht behalten. Seine konservative Familie machte aus ihm einen leidenschaftlichen Republikaner und Gegner der Kirche. Als Offizier lernte er Italien kennen, das er zu seiner Wahlheimat erkor. Mit dem napoleonischen Heer durchquerte er halb Europa bis Moskau; auch durch den Ort Stendal in Preußen führte sein Weg, welchen Namen er sich als Pseudonym zulegte. Nach der Revolution von 1830 wurde er Konsul in Triest und dann in Civitavecchia, wo er sich unsäglich langweilte, wollte ihn doch nicht einmal die Tochter seiner Wäscherin heiraten. Er riss nach Paris aus, wo er bis zu seinem Tod am 23. März 1842 Gesellschaften zu unterhalten wusste.
Stendhal ist in Paris auf dem Cimetière Montmartre begraben. Auf seinem Grabstein steht, auf seinen Wunsch: "Arrigo Beyle, Mailänder. Er lebte, schrieb und liebte."

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Über die Liebe. Essay"

Als Stendhal die Liebe und ihre Geheimnisse ergründen wollte, war er ein Verletzter. Der Grund: seine unerwiderte Liebe zu Mathilde Dembowskij. Stendhal wusste, dass es ihm nicht gelingen würde, seine Seelenwunden zu vergessen oder zu überwinden, um die Liebe aus rein analytischer Sicht betrachten zu können. Und so ist in diesem großen Essay über die Liebe seine innere Zerrissenheit durchwegs präsent, ja angelegt: Da ist einerseits die Stimme der Vernunft, die uns klar begreifen lässt, warum wir leiden. Aber da ist auch das andere, das raunt und fleht ... Was am Ende siegt? Wie immer - es ist, trotz allem, die Unvernunft der Liebe!
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"Die Kartause von Parma"
Fabrice del Dongo, einem jungen, reichen und ein wenig leichtfertigen Adeligen, öffnen sich Türen und Herzen. Dennoch leidet er an seinem Unvermögen, das Leben zu meistern. Zwar kann er in der Verborgenheit einer verbotenen Liebe im Widerspruch zu seinem Amt als kirchlicher Würdenträger zeitweise das Glück genießen. Doch mit einer unbedachten Handlung macht er alles zunichte. zur Rezension ...
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