Harald Haarmann: "Weltgeschichte der Sprachen"

Von der Frühzeit des Menschen bis zur Gegenwart


Was können wir über die Sprachen der Steinzeitmenschen wissen?

Eine moderne Unversalgeschichte der Sprache verspricht der Klappentext auf Harald Haarmanns neuestem Buch. Der Autor ist bekannt für gute und übersichtliche Handbücher und Enzyklopädien (Geschichte der Schrift, Kleines Lexikon der Sprachen, Lexikon der untergegangenen Sprachen, Kleines Lexikon der Völker, Sprachenalmanach u.a.m.), in denen er Grundlegendes und Interessantes zu einzelnen Sprachen und Völkern zusammenstellte. Haarmann ist ein hervorragender Kompilator! Lässt sich dieser Qualitätsanspruch auch bei einem Thema einlösen, das sich nicht so leicht in einzelne Einträge aufspalten und einteilen lässt wie die alphabetische Aneinanderreihung von Kapiteln zu einzelnen Sprachen, Völkern oder Schriften?

Die Weltgeschichte der Sprachen bietet auf fast 400 Seiten umfangreiche und meist sehr aktuelle Informationen zu einzelnen Sprachen oder Sprachgruppen und zur sprachgeschichtlichen Forschung und hält anschauliche Überblickstafeln und Landkarten bereit. Sie ist auch eine Fundgrube für lange gesuchte Beispiele zu bekannten, aber schwer belegbaren Phänomenen aus der Vielfalt der Sprachen: Anhand der Demonstrativpronomina in der Sprache der sibirischen Eskimo, der Ausdrücke für "Schnee" im Inari-Samischen oder Farbbezeichnungen aus mehreren Indianersprachen und dem Altägyptischen verdeutlicht der Linguist Haarmann Ausdrucksvielfalt und sprachliche Relativität im Sprachenvergleich. Auch Grundprobleme, denen zwangsläufig jeder begegnet, der über Sprache(n) schreibt oder spricht, z.B. die Frage, was überhaupt eine Sprache vom Dialekt unterscheidet, löst er mit geeigneten Beispielen und klaren Texten auf.

Doch wo es um die Darstellung von Jahrtausende dauernden Prozessen geht, um die Entwicklung ganzer Sprachen oder Sprachgruppen, fehlt es dem Buch an Geradlinigkeit und Plausibilität. Mehr als nur einmal schreibt Haarmann, dass sich die Geschichte der Sprache nur rund zehntausend Jahre zurückverfolgen lassen lässt, dass die Anfänge des Schriftgebrauchs in Mesopotamien auf 3200 v.Chr. datiert werden. Dennoch weiß er auch über die Sprachentwicklung der archaischen Menschen vor weit mehr als hunderttausend Jahren zu berichten - ohne dafür überzeugende Beweise liefern zu können. Über den Neandertaler ist zu lesen, dass er auf Grund anatomischer Gegebenheiten nur imstande gewesen sei, zwei verschiedene Vokale auszusprechen. Flugs fügt Haarmann an, dass es auch bis vor wenigen Jahren noch eine Sprache gab, die ebenso mit nur zwei Vokalen auskam, das ausgestorbene Ubychische im Kaukasus - und findet in der Textfolge nicht mehr zu den Neandertalern zurück. Auch an vielen anderen Stellen des Buches oszilliert der Autor zwischen Vergangenheit und Gegenwart und lässt jene Leser, die sich nicht die Zeit nehmen, den unzähligen Literaturhinweisen nachzugehen, verwirrt zurück: Warum sind manche Merkmale wie der Ergativ im Baskischen oder die Numeralklassifikation im Thai archaischer als andere sprachtypologische Eigenheiten? Kann man die Schnalzlaute, die fast nur im südlichen Afrika verwendet werden, zu den fossilen Strukturen von Altsprachen zählen? Dies ist nur eine der Stellen, an der die Grenze zwischen wissenschaftlich gesicherter Erkenntnis und Spekulation zu schwimmen beginnt.

Für jede Sprachfamilie werden Entstehungszeiten genannt, die unterschiedlich, oft genetisch, siedlungsgeschichtlich oder sprachvergleichend datiert werden, z.B. die indoeuropäische Sprachfamilie ab ca. 7000 v.Chr. Was aber war zuvor, sprachen alle Menschen nur eine gemeinsame Sprache? Haarmann scheint davon auszugehen, dass sich alle Sprachen irgendwann von einer gemeinsamen Sprachform abspalteten. Wo aber Argumente aus dem Sprachvergleich nicht mehr weiterhelfen, gelten für den Linguisten Haarmann Untersuchungen der Genetiker, v.a. des Italieners Luigi Luca Cavalli-Sforza. Nach dessen Recherchen haben jene Gruppen, die sich zuerst von der Restbevölkerung trennten, unähnlichere Gene. So hantelt sich der Sprachforscher von jenen Sprachfamilien, die sich nach den genetischen Untersuchungen zuerst abspalteten, zu denen vor, die länger im gemeinsamen Genpool blieben und findet linguistische Beweise zur Stützung der humanbiologischen Theorien. Nicht selten aber berichtet er zwischendurch von historisch belegtem Sprachwechsel, z.B. in der Völkerwanderungszeit. Wie aber können in solchen Fällen Linguistik und Genetik zu konvergenten Ergebnissen kommen? Sprache ist von Generation zu Generation veränderbar, die Gene nicht.

In den Kapiteln zu einzelnen Sprachfamilien, die mehr als die Hälfte des Buches umfassen, finden sich viele Parallelen zu Harald Haarmanns Sprachlexika, auch viele ungleich gewichtete und parallele Informationen: Dem Gotischen widmet der Kompilator zwölf Seiten - nicht ohne dreimal, auf drei verschiedenen Seiten, über deren Reichsgründungen zu berichten, dem Griechischen hingegen nur zwei. Inhalte dieses Buchteils wurden in den eingangs genannten Werken Harald Haarmanns weit besser, vor allem übersichtlicher dargestellt.

Mit dem Versuch, eine historische Abfolge in die Beschreibung der Sprachfamilien zu bringen, hat der viel schreibende Autor ein ambitioniertes Werk begonnen: eine Synchronisation der Sprachgeschichte mit Erkenntnissen aus anderen Wissenschaften. Den Anspruch an Qualität, an Klarheit und Wissenschaftlichkeit, den er in früheren Werken bewies, konnte er damit nicht einlösen.

(Wolfgang Moser; 11/2006)


Harald Haarmann: "Weltgeschichte der Sprachen"
C.H. Beck, 2006. 397 Seiten.
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