Raoul Schrott: "Gilgamesh"


Das Gilgamesch-Epos ist das älteste literarische Werk, welches - wahrscheinlich vor etwas mehr als vier Jahrtausenden geboren - auf uns gekommen ist. Dass es unterwegs nicht verlorenging, war gewiss kein Zufall, schließlich gehörten die Geschichten von Gilgamesh wohl ein gutes Jahrtausend zu den meistgelesenen bzw. -gehörten des Zwischenstromlandes (und fanden bis an die Mittelmeerküste und Ägypten Verbreitung), wie unzählige Werkabschriften und Bearbeitungen des Stoffes bis kurz vor Chr. nahelegen.
Gilgamesch selbst war ein sumerischer König, Herr der Stadt Uruk, einer der ersten großen Stadtstaaten Mesopotamiens (im heutigen Südirak gelegen), Erbauer von zahlreichen Tempeln, Götterstatuen, Schutzwällen, einer der frühen Lichtbringer der Menschheit, jemand, der die sogenannte Zivilisation ein gutes Stück weitergebracht hat. Und ein Mann von großem Charisma, gemessen daran, in welchem Ausmaß er der Nachwelt als Träger von Eigenschaften und Vollbringer von großen Taten Anlass zu einer beispielslosen Mythenbildung gab: König und Held, zu zwei Drittel Gott, ein Drittel Mensch, ins Reich des Todes hinabgestiegen und wieder zurückgekommen, und - Träumer eines der schönsten Menschheitsträume - Kämpfer für die eigene Unsterblichkeit.

Raoul Schrott hat sich ausführlich, mit der ihm eigenen Feinfühligkeit und Genauigkeit mit dem Stoff in allen seinen vorliegenden Fassungen und Fragmenten auseinandergesetzt. Herausgekommen sind dabei, unterstützt von zwei Assyrologen, eine Neuübertragung der ninivitischen Fassung, welche man üblicherweise als Gilgamesh-Epos zu lesen bekommt; ferner umfassende Kommentare zu den historischen Gegebenheiten, den einzelnen Fassungen, ihrer jeweiligen Sprache, der allen gemeinsamen Keilschrift und den verschiedenen Möglichkeiten und Varianten des Übersetzens ungewisser Passagen; schließlich - zweifellos als Höhepunkt - eine Nachdichtung, in deren Feinabstimmung von Filologie, Geschichte, Dichtkunst und nicht zuletzt Kenntnis der menschlichen Psyche Schrott alle seine Stärken wunderbar zur Geltung und also Gilgamesh, Enkidu und die Götter der damaligen Zeit dem heutigen Leser sehr lebendig nahe zu bringen vermag. Der Autor der Ninivitischen Fassung war ein großer Dichter, der unterschiedlichste Kurzepen und Überlieferungsstränge zu einem Ganzen schmiedete und dabei eine Vielzahl von Themen, Todesangst und Unsterblichkeitssehnsucht, Zivilisation und Naturverbundenheit, Genusssucht, Ehrgeiz und zwischen den Zeilen ein sich wandelndes Götterbild mit tiefer Menschenkenntnis und recht eigenem Humor behandelte.

Über die Systematik seiner Nachdichtung schreibt Raoul Schrott im Vorwort Folgendes:
"Für die vorliegende Nachdichtung wurden erst einmal die Texte der drei Entwicklungsstufen übertragen - die sumerischen Kurzepen, die altbabylonische Version und der ninivitische Standardtext. Dann wurden die einzelnen Strata gesichtet und die Erzählebene auf die Epoche des historischen Gilgamesh und die Realienkunde der frühen Bronzezeit um die Mitte des 3. Jahrtausends fixiert, immer darum bemüht, offensichtliche Anachronismen zu vermeiden. Die Reste aus allen drei Schichten und den einzelnen Fragmenten wurden wieder zu einem ganzheitlichen, innerlich geschlossenen Bau zusammengefügt, der Mauer um eine Stadt, deren Grundriss über Jahrtausende derselbe geblieben ist."

(stro; 01/2002)


Raoul Schrott: "Gilgamesh"
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2001. 341 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Fischer, 2004.
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Stefan M. Maul bietet auf der Grundlage von zum Teil noch unpublizierten Textzeugen eine vollständig neue Übersetzung des Gilgamesch-Epos. Er beschränkt sich nicht darauf, ein Hauptwerk der Weltliteratur in unsere Sprache zu übertragen, den babylonischen Originaltext so wortgetreu wie möglich wiederzugeben und ihn zugleich in ein schönes, gut lesbares Deutsch zu fassen. Vielmehr nimmt er in seiner Einleitung und seinen Kommentaren die Leser mit in die Welt des Alten Orients während des 3. Jahrtausends v. Chr. und erläutert auch die politischen, gesellschaftlichen und geistigen Rahmenbedingungen, unter denen das Gilgamesch-Epos entstanden ist. (C.H. Beck)
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