Arno Schmidt: "Geschichten aus Deutschland"

Romane und Erzählungen. 2 Bände


Wahnwitzig! Nochmal: oder nichts

Für die Einen ist Arno Schmidt (1914-1979) einer der bedeutendsten Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg, für die Anderen ist er einer der bedeutendsten unbekannten Autoren - für die, die ihn kennen, hat er Kult-Status, diejenigen, die ihn nicht kennen, weigern sich ihn zu kennen. Die Verbindung traditioneller und avantgardistischer Erzähltechniken begründete seinen besonderen Status, ebenso wie seine Fouqué- oder Karl-May-Studien. Dass er angeklagt wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften aus dem erzkatholischen Kastel (Saar) ins protestantische Darmstadt flüchtete, wo das Verfahren gegen ihn aufgrund eines exzellenten professoralen Gutachtens eingestellt wurde, ist eine der wenigen provokanten Anekdoten seines geografisch recht überschaubaren Lebens - verblieb er doch ab 1958 relativ brav und zurückgezogen in Bargfeld (Niedersachsen). Berühmt-berüchtigt waren seine Zettelkästen, aus denen auch sein wichtigstes Werk 'Zettels Traum' hervorging.

Schmidts Stil gilt als "schwierig", weil er alte Sprachstufen verarbeitet ebenso wie Dialekte - und sich nicht unbedingt an die Duden-Regeln hält. Seiner Fantasie sind weder orthografisch noch wortschöpferisch Grenzen gesetzt. Er ist ein Wortweltenerbauer mit scharfer Beobachtungsgabe und bisweilen bizarrem Humor, der durchaus an 'Finnegan's Wake' oder 'Alice im Wunderland' erinnert. In seinen 'Materialien für eine Biographie' sagt er über sich: "Bin ich ein deutscher Schriftsteller vom zweiten Range (worin keine übermäßige Bescheidenheit liegen soll: wir haben keinen Mann ersten Ranges zur Zeit!; besser zu werden, haben mich ungünstige Umstände verhindert; man vergesse nie, daß mein erstes Buch erschien, als ich 35 Jahre alt war - also um 15 Jahre zu spät.)".

Das Leben ist für Schmidt eine Qual, und der Intellekt führt uns die Unsinnigkeit und Grausamkeit nur umso deutlicher vor Augen. Wie ernst kann er wohl die in 'Tina oder Über die Unsterblichkeit' formulierte Lebensmethode gemeint haben: "Was ist demnach das beste Rezept für ein Erdenleben überhaupt (...) Aufs Dorf ziehen. Doof sein. Rammeln. Maul halten. Kirche gehn (...) Gegen Schreib- und Leseunterricht stimmen; für die Wiederaufrüstung: Atombomben!" Diesen hämischen Fatalismus hat er kaum drastischer formuliert, als am Anfang von 'Kaff' mit dem vom Dampfmaschinenrhythmus ausgestoßenen Alliterazismus: "Nichts Niemand Nirgends Nie." Eigentlich war Schmidt aber naturwissenschaftlich gebildet und mathematisch interessiert, aus seiner Belesenheit resultiert so manches (nicht gekennzeichnete) Zitat in seinen Schriften. Religion ist für ihn Aberglaube, das Christentum sieht er als Hemmnis für den Fortschritt in der Entwicklung Europas. Und so bezeichnet er sich selbstbewusst als "antireligiös". V.a. in seinem Essay 'Atheist? Allerdings!' und in der Erzählung 'Seelandschaft mit Pocahontas' kommt diese Einstellung deutlich zum Tragen.

So hat Schmidt eben auch wahnwitzige Ideen, z.B. stellt er in 'Brand's Haide' die Frage: "Warum kann man andere Menschen nicht an sein Gehirn anschließen, daß sie dieselben Bilder, Erinnerungsbilder, sehen wie man selbst?" Das wäre zumindest eine Alternative zum Fernsehen oder auch zum immer beliebter werdenden virtuellen Rollenspiel. Es gibt kein besseres Charakteradjektiv für Arno Schmidt als wahnwitzig - der Autor mit einem der allgemeingültigsten deutschen Nachnamen, der ansonsten die Worte drechselte, häckselte und verknotete wie kein anderer Zeitgenosse - radikaler als die Expressionisten, freilich naiver als Carl Einstein. Da darf man keinen simplen kompatiblen Sinn vermuten, da muss man fast schon autistisch denken ("Was wiss'n noch?!"). Jedenfalls könnte man ja immerhin den Leviathan "durch Präservative prellen". Oder man könnte "frösteln und schimpfen" - es sei denn man goutiert selbstversessen "die üblichen geheimnisvollen Einzelbuchstaben, sadistisch sparsam und schief gestreut" (vgl. 'Das steinerne Herz').

Der Roman (?) 'Kaff' ist mit seinen über 300 Seiten und gar wunderlichen Diktionen, Schreibvariierungen sowie seiner Antihandlungsführung kaum lesbar als unverbindliche Freizeitlektüre. Eine Stelle daraus klingt wie höhnische Selbstreferenz: "Warum bistu bloß so geegn Akkademikker? (...) - Weil die es einfach nicht mehr verstehen -: mehr noch: nicht verstehen wollen! - wie einfache Menschn zu denkn und zu schprechn. Ich mache mich anheischisch, jeglichen literarischen oder wissenschaftlichen Befund so einfach=präzise und dabei eindringlich darzuschtellen." Aber wenn schon einer "Lecksiekonn" schreibt oder "DAA=mitt" und "Dukuckamma" - dann versteht man auch, warum man nichts versteht: da "runkelte" einer "Konnsonanntn um Wohkahle = rumm; (bis es nich mehr viel Ähnlichkeit mit der Schprache hatte."). Tja, da wird man als Leser "sähr värr=läggänn" und da sollte man wohl "möklichst weenich denkn, in=zwischn." Schmidt liest sich am besten, wenn man besessener Germanist ist oder mittelprächtig angetrunken. Das Hirn wird einem breiig, und man bekommt einen HU=moor, der die Tränen in Süßwasser verwandelt.

(KS; 10/2007)


Arno Schmidt: "Geschichten aus Deutschland"
Suhrkamp, 2007. 1. Band 463 Seiten, 2. Band 425 Seiten.
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Arno Schmidt, am 18. Jänner 1914 in Hamburg geboren, war nach dem Abitur und einer kaufmännischen Lehre 1937-1940 grafischer Lagerbuchhalter in Greiffenberg (Schlesien) und von 1940 bis 1945 Soldat, überwiegend in Norwegen. Ab 1947 lebte er als freier Schriftsteller u.a. im Saarland und in Darmstadt, ab 1958 in Bargfeld, Kreis Celle. Arno Schmidt starb am 3. Juni 1979 in Celle.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Briefwechsel mit Kollegen"

Herausgegeben von Gregor Strick. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung. (Suhrkamp)
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"Die Schule der Atheisten. Novellen-Comödie in 6 Aufzügen"
Ein Bündel komischer Handlungen vor versetztem Zeithorizont, worin die Zukunft eine über den Rücken der Gegenwart transportierte wohlvertraute Vergangenheit ist. (S. Fischer)
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"KAFF auch Mare Crisium"
Ein 46jähriger Lohnbuchhalter macht mit seiner Freundin, einer Designerin, einen Automobilausflug: mit der Isetta von Nordhorn nach Giffendorf in der Lüneburger Heide. Dort bewirtet sie Tante Heete, die lebensfrohe, aber etwas vereinsamte Witwe. Da ist die ganze Geschichte. Sie erzählt vom Wirtschaftswunder, das an den kleinen Angestellten vorbeigeht, und von den erotischen Obsessionen unseres Alltags. In ihrem Kern birgt sie ein Stück "Science-fiction", eine Utopie, die auf den Ungeist des Kalten Krieges reagiert: "KAFF" ist ein literarisches Prisma der westdeutschen 1950er Jahre.
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"Zettels Traum"
"Zettels Traum" gilt als das Hauptwerk Arno Schmidts. Es umfasst 1334 mehrspaltig beschriebene Seiten, die in Form des Original-Typoskripts mit Randglossen und Handskizzen des Autors wiedergegeben sind. Sein Titel verweist ironisch auf die 120.000 Notizzettel, auf denen Schmidt seine Einfälle zum Buch notiert hatte, und auf den Weber namens Zettel in Shakespeares "Sommernachtstraum". Der Roman ist ein Solitär in der Literatur des 20. Jahrhunderts, der seit der ersten Veröffentlichung 1970 großes Aufsehen erregt, wobei der Reichtum an Anspielungen bis heute nicht gänzlich ergründet werden konnte. Das Jahrhundertwerk in neuer, hochwertiger Ausstattung in Leinen mit Schuber. (S. Fischer)
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"Verschobene Kontinente" zur Rezension ...