Magdalena Sadlon: "Solange es schön ist"


Irgendwie versuchen alle, jeder für sich, ihr kleines und armseliges Leben in den Griff zu bekommen, ihm einen, wenn auch nur winzigen und oft nur einen Sekundenaugenblick währenden Sinn zu verleihen - die Bewohner eines alten Mietshauses in Wien.

Da ist Johanna Brütt, die als zehnjähriges Mädchen mit ihrer Mutter von der Nordseeküste nach Wien gezogen ist und dort unter erheblichen Anpassungsschwierigkeiten litt, wie sie später Dr. Munter verrät, einem Psychologen, dem sie ihr Leben erzählt. Johanna arbeitet im Büro eines Anwalts und hasst das Alleinsein. Dennoch hat sie ihren langjährigen Freund, den Juden Robert Herzig, der als Arzneimittelvertreter seine Brötchen verdient, aus der Wohnung geworfen, kann ihn aber nicht wirklich loslassen.

Da ist der Fotograf Gregor Dorn, ein alkohol- und frauenkonsumierender Single, der nichts von Beziehungen hält und von Bindungen schon gar nichts. Er macht Johanna eindeutige Angebote und, hungrig wie sie ist, geht sie darauf ein. Und sie ist - sexuell jedenfalls - voll befriedigt: "Endlich mal richtig gefickt, anstatt nur Liebe gemacht."
Doch auch das sind nur Sekundenaugenblicke voll Leben, und danach kehrt der triste Alltag wieder ein.

Da ist die alte Frau Kralik mit ihrem Schoßhündchen Rocky, die neugierig alle Bewegungen im Haus verfolgt und trotz allem auf eine rührende Art versucht, so etwas wie Beziehungen unter den Bewohnern herzustellen. Ähnliches versucht auf seine Weise der allwissende Hausmeister Thomas Fuchs, ein etwas alterslüsterner Mann, der gerne die Frauen des Hauses auf ein Gläschen und ein paar selbstgemachte Kipferln einlädt.

Und dann gibt es noch Johannas Mutter, Frau Brütt, die ihr ganzes Leben der Selbstverwirklichung gewidmet hat, von einem Meditationskurs zum nächsten fährt, von Yoga in allen Variationen bis zu den Fünf Tibetern alles schon ausprobiert hat, und dennoch, vielleicht mehr als je zuvor, sich immer wieder selbst abhanden kommt. Auch für ihre Tochter Johanna ist sie nicht greifbar; in ihrem schwierigen und leidvollen Versuch, erwachsen zu werden, könnte Johanna eine an ihren vielen Erfahrungen gereifte Mutter wirklich gut gebrauchen. Aber Fehlanzeige auf der ganzen Linie!

Alle miteinander versuchen sie, aus ihren alten Mustern herauszukommen. Johanna geht zu einem Psychologen, dem sie zum ersten Mal selbstreflektiert ihr Leben erzählt. Robert versucht, leider vergeblich, eine andere Frau kennen zu lernen, Gregor öffnet sich neuen fotografischen Herausforderungen, und die beiden Alten beginnen jenseits ihrer voyeuristischen Neugier echtes Interesse an ihren Mitbewohnern zu entwickeln. Ist es reiner Zufall, dass Einzelne von ihnen sich seit neuestem öfter begegnen als je zuvor, in der U-Bahn, auf dem Markt?
Sicher auch kein Zufall ist es, dass sie alle miteinander eines Tages an der in der Nähe des Wohnhauses gelegenen Bushaltestelle warten. Als der Bus endlich kommt, vergisst der Fahrer das Bremsen ...

"Solange es schön ist" ist ein Roman, der mit tiefer Nähe und Einfühlsamkeit, streckenweise aber auch mit fast schmerzhafter innerer Distanz das Schicksal von Menschen beschreibt. Es gibt Abschnitte, wo man laut lacht beim Lesen, und andere, die irritieren, traurig machen und hoffnungslos, angesichts solcher Menge ungelebten Lebens.

"Solange es schön ist", sagt Frau Kralik, um sich zu motivieren, ihren Hund auszuführen. Ein solches Motto ist kein schlechter Lebensratgeber. Wer, solange es schön ist, wirklich genießen kann, speichert damit die Kraft und die Energie für die Zeiten, wo es hart wird.
Den Menschen im neuen Buch von Magdalena Sadlon wird durch ein verheerendes Unglück die Chance genommen, dem zarten Lebensfaden, den sie im Lauf des Buches aufgerollt haben, weiter zu folgen.

Dem in glücklichen familiären Zusammenhängen und Bindungen lebenden Rezensenten beginnt es durch seine Irritation hindurch zu dämmern, dass die Zahl der orientierungslos dahinlebenden Menschen nicht nur in den Wohnhäusern der Großstädte wohl viel größer ist, als er bisher anzunehmen bereit war. Weniger wird die Irritation dadurch jedoch nicht. Was geschieht mit all diesen Menschen? Wie werden sie alt? Können sie sich aus ihrer Misere heraus selbst eine Perspektive geben?
Viele offene Fragen - viel Stoff für ein neues Buch.

(Winfried Stanzick; 02/2006)


Magdalena Sadlon: "Solange es schön ist"
Zsolnay, 2006. 112 Seiten.
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Magdalena Sadlon kam am 2. August 1956 in Zlate Moravec in der Slowakei zu Welt. 1968 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Österreich. Nach einer Schauspielausbildung spielte sie Theater, bevor sie als Übersetzerin und Schriftstellerin tätig wurde.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Die wunderbaren Wege"

In Magdalena Sadlons erstem Roman begegnen wir einem Enkel der Monarchie, einem Sohn des Dritten Reiches - einem Kind Österreichs. Wie die meisten Wiener stammt auch Jakob aus der Provinz. Seit seiner erzwungenen Pensionierung als Lehrer gibt er sich den Passionen des Alltags hin: Kaffeehaus, Pfeife, Billard, Zeitungen und unregelmäßige Besuche in zwielichtigen Spelunken. Zwischen den Verlockungen des Ausbrechens aus dem Alltag und der Macht der Bequemlichkeit, zwischen Courage und Lächerlichkeit, Gier nach Leben und Verweigerung aller menschlichen Regungen verläuft dieses Psychogramm, das Magdalena Sadlon zu einem hintergründigen, ironischen Roman verdichtet hat.
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Leseprobe:

2.

Töten. Können wir denn etwas anderes als das Verlangen in uns abtöten? Johanna war wütend, sie hielt ein großes, scharfes Brotmesser in der Hand. Roberts Besuch hatte sie sich anders vorgestellt, immerhin war er vier Monate lang nicht mehr zu Hause gewesen. Sie hätte erwartet, daß er etwas Liebenswürdiges zurücklassen würde, etwas Sichtbares. Oder daß zumindest ein bißchen Wehmut bei ihm spürbar würde: "Hier und wir, und irgendwelche schönen Erinnerungen." Sie stand in der Küche und mühte sich mit den Kalkresten, die sich im Lauf der Zeit um den Ausguß gebildet hatten. Sie fuhr mit dem Messer die Rundung entlang, kratzte an den weißlichen Ablagerungen, ohne viel Erfolg. Tätigkeiten ohne Belang. Gern hätte sie auch belanglose Gedanken gehabt, aber sie verstrickte sich andauernd in Dinge, die sie dann wesentlich nannte, und die sie immer aufs neue in eine Alles-oder-nichts-Ordnung zu bringen versuchte. Robert wieder dachte immer nur über das Erreichbare nach: "Nur da ist es möglich, einen Gedanken zu Ende zu führen", sagte er immerzu belehrend. Zu Ende denken, realisieren, konsequent sein, Ziele haben. Alle seine Antworten klangen wie Vorwürfe, und es waren auch Vorwürfe, nichts anderes als Zurechtweisungen. Genauso gut und selbstgerecht hätte er "Halt den Mund und sei schön", sagen können, aber so etwas erlaubte Robert sich nicht, er war stets auf korrekte Bevormundung bedacht.

Johanna war sehr verärgert. In letzter Zeit wurde sie immer öfter zornig, wenn sie an Robert dachte.

Sie preßte das Messer mit beiden Händen fest gegen das Metall und schabte weiter. Ein mit Essig getränktes Tuch darauf zu legen, wie es die Mutter mal vorgeschlagen hatte, entsprach nicht ihrer Stimmung. Das Scheuern wurde sandig unangenehm. Und als wären ihre Ohren an den Schulterblättern plaziert, riß sie das Geräusch von der Mitte her steil in die Höhe. Ihre Haut schob sich förmlich zusammen, der Nacken verkürzte sich im Schauder, sie kniff die Augen zusammen und drückte die Lippen aufeinander. Johanna warf angewidert das Messer in die Abwasch.

Immer kam alles heftig über sie, alles war wie Schmirgelpapier für ihre Seele, machte sich körperlich bemerkbar! Sie setzte sich hin streckte die Beine weit von sich. Es war zu ekelerregend. Und das wahre Leben war immer dort, wo sie nicht war, dachte sie.

Sie ließ ihre Hände zwischen die Schenkel fallen. Sie fühlte gerne die Wärme der Hände und ihren Schoß. Das gab ihr Geborgenheit, aber jetzt hatte sie keine Lust, sich wohl zu fühlen, sie fühlte sich nur glücklos und ausweglos gefangen zwischen den Wänden und den Gedanken und der Nahrungsaufnahme und dem Bett und dem Beruf. Und es schien langsam auch beliebig, wessen Bett es würde, welchen Job sie machte. Hauptsache, sie war nicht alleine.

Andererseits war ihre Welt in Ordnung, überlegte sie. Die Männer schauten sie noch an. Ein Lächeln erreichte sie, ein freundlicher Blick. Sie wollte kein Sexualobjekt sein, aber übersehen werden wollte sie auch nicht. Eine unaufdringliche Sympathiebezeugung, eine Aufmerksamkeit im Vorübergehen, das war wunderbar. Menschen schauten einander an, und das war einfach und schön, dachte sie.

Nur wenn sie sich schlecht fühlte, empfand sie die Blicke, die zuvor ein junges Kätzchen betrachtet hatten, wie auf einen räudigen Kater gerichtet. Sie fühlte sich gemustert. Die Möglichkeit irritierte sie, daß ihre Schminke verrutscht sein könnte, daß ihr Gesicht darunter an irgendeiner Stelle hervorlugte oder daß ein dummer Garderobefehler die Blicke anzog.

Als Kind hatte sie oft Detektiv gespielt. Sie spionierte schöne Menschen bis zu ihrer Wohnung aus, einem Haus, in dem sie verschwanden, sie schlich sich in die Abenteuer der Erwachsenenwelt ein. Beobachtete ihre Begegnungen und ihre einsamen Wege, die ihr viel Freiraum für Geheimnisse boten, weil sie diese selten zu deuten wußte.

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