Juri Rytchëu: "Teryky"

"In der ganzen riesigen Weite gibt es kein Fleckchen für einen Verwandelten, Unglücklichen, Verdammten! Selbst die Polarmaus, wenn sie dem Fuchs und dem Wolf entkommt, selbst die Krähe, der Hase, der Braunbär und der Eisbär - sie alle finden ihren Unterschlupf. Nur ein Teryky nicht. Allem, was auf der Erde lebt und existiert, ist ein Teryky fremd."


Der jüngste von drei Brüdern, Goigoi, bis über beide Ohren in seine liebreizende frisch Angetraute namens Tin-Tin verliebt, verlässt wie jeden Morgen die Jaranga, die das junge Paar mit Goigois Bruder Piny und dessen Frau bewohnt. Er ist in Gedanken beim weichen Körper seiner Tin-Tin und zieht über die Tundra, um zu jagen.

Es wird ein Frühlingstag, der das Leben des Tschuktschen und seiner Angehörigen für immer verändern soll: Der in süße Tagträume versunkene Goigoi gerät in einem Wetterumschwung auf eine Eisscholle, die sich von der Küste löst und mit ihrer verzweifelten Fracht aufs offene Meer hinaus treibt.
Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, entsinnt sich der Robbenjäger einer Legende welche besagt, dass sich Menschen, die auf Eisschollen vom Land wegtreiben, in behaarte Bestien, sogenannte Terykys, verwandeln, denen es bestimmt sei, nur von Menschenhand den Tod zu empfangen ...

Indessen wartet die schweigsame Tin-Tin, die als Jüngste in der Jaranga die schwersten Arbeiten verrichten muss, sehnlichst auf Goigois Heimkehr. In ihren Liedern offenbart sich auch den Anderen ihr träumerisches Wesen, und Piny, einer der Brüder Goigois, verspürt vorerst Neid und später wachsendes Begehren, wenn er die junge Schwägerin beobachtet, weil er und seine mittlerweile nicht mehr taufrische Gattin kinderlos geblieben sind und er dem jüngeren Bruder die begehrenswerte Frau missgönnt.

Die Geschichte schwenkt sodann wiederholt zwischen zwei Schauplätzen der Handlung hin und her: Einerseits wird Goigois Schicksal auf der wochenlang dahintreibenden Eisscholle geschildert, seine Gedanken, sein Kampf ums nackte Überleben, andererseits wird das Denken und Handeln seiner beiden Brüder, seiner Frau Tin-Tin und seiner Schwägerin Ajana, die Goigoi - je nach persönlichem Interesse - für vermisst oder tot halten, beschrieben.

Wird sich Goigoi in einen Teryky verwandeln, wie es die unheilvolle Legende verheißt? Wird Piny Tin-Tin zu seiner Frau machen, wird Tin-Tins Liebe zu Goigoi unerschütterlich bleiben? Wie wird der älteste Bruder, Këu, als Familienoberhaupt in dieser Angelegenheit urteilen, und wie wird sich Pinys erste Frau angesichts der ebenso tüchtigen wie hübschen Nebenbuhlerin verhalten?

"Teryky" erzählt mit zarter und sanfter Sprache eine bezaubernde, märchenhafte Geschichte aus vielerlei Mosaiksteinchen: Es gibt eine
tragisch-romantische Liebesgeschichte, klassische Neid- und Eifersuchtsszenen, eindrückliche Darstellungen der Lebensbedingungen und des Alltags in einer rauen Landschaft, einige Einblicke in den nordischen Legenden- und Mythenschatz, wie auch in Bewusstseinsveränderungen und Jenseitsvorstellungen.

Juri Rytchëu wurde 1930 im äußersten Norden der Sowjetunion als Sohn eines Jägers geboren. Nach Beendigung der Schule arbeitete er als Gelegenheitsarbeiter, absolvierte ein örtliches Lehrerbildungsinstitut und studierte schließlich als offizieller Delegierter des Nationalkreises der Tschuktschen bis 1954 an der Fakultät der Nordvölker in Leningrad.
Anfang der 1950er Jahre erschienen seine ersten Erzählungen in tschuktschischer Sprache, bevor sie - später teils von ihm selber - ins Russische übersetzt wurden. 

 (K. Eckberg; 04/2003)


Juri Rytchëu starb am 14. Mai 2008 im Alter von 78 Jahren nach schwerer Krankheit in St. Petersburg.

Juri Rytchëu: "Teryky"
Aus dem Russischen von Waltraud Ahrndt.
Unionsverlag, 2003. 160 Seiten.
ISBN 3-293-20257-8.
ca. EUR 7,90.
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