Joseph Roth: "Radetzkymarsch"


1932 erschien Joseph Roths Roman "Radetzkymarsch", sein ebenso schonungsloser wie traurig-liebevoller Abgesang auf die Donaumonarchie.
Wenig originell, dafür umso stimmiger steht dabei ihr vorletzter Kaiser, Franz Joseph der Erste, im Zentrum des Geschehens, zum Einen lässt ihn der Schriftsteller als handelnde Figur auftreten, vor allem aber verknüpft er mit ihm engstens das Geschick der Familie Trotta, welches über vier Generationen hinweg im Wesentlichen erzählt wird.
Den ersten Trotta, Nachfahren slowenischer Bauern, hat noch der alte Feldmarschall Radetzky persönlich gezwiebelt, nun darf er seinen Lebensabend als Kriegsinvalide mit Gärtnerpflichten im Schlosspark von Laxenburg verbringen. Sein Sohn bringt es zum Rang eines Leutnants und als solcher, damit setzt das Buch ein, rettet er dem jungen Kaiser Franz Joseph in der Schlacht von Solferino (am 24.6.1859) das Leben, was der Familie einen Adelstitel, Wohlstand, sonstige Gunstbeweise des Hauses Habsburg und damit eine Art neuer Zeitrechnung beschert. Denn allen Trottas ist in der Folge gemeinsam, dass sie dem Kaiserreich in uneingeschränkter Loyalität ergeben sind und ihr ganzes Bestreben dahin geht, das in sie gesetzte Vertrauen und die neue Würde zu rechtfertigen. Dabei stoßen sie, dies ist wohl die Grundidee des Romans, auf systemimmanente, sich mit der Zeit wandelnde und wachsende Hindernisse und machen so die Kluft von Schein und Sein, Wirklichkeit und Anspruch der Monarchie sowie den Zusammenprall von Tradition und Moderne schön sichtbar.
Verderblicher als italienische Kugeln erweist sich für den Helden von Solferino ein Schullesebuch, in welchem die noch junge Schlacht von Solferino und seine eigene Tat dramatisch überhöht dargestellt werden. Gegen das Abraten aller seiner Bekannten ersucht er um eine Audienz bei Franz Joseph, wo der Kaiser immerhin verspricht, beanstandete Stelle aus dem Lehrbuch zu entfernen, doch des Wahrheitsritters Grundvertrauen ist unwiederbringlich erschüttert. Zornig quittiert er die Armee und befiehlt seinem Sohn entgegen dessen militärischem Berufswunsch, Jurist zu werden, worauf dieser durch kaiserliche Gunst und eigene Tadellosigkeit bald den Posten eines Bezirksvorstehers in einer mährischen Stadt erklimmt, seinen Sohn wiederum schon früh durch Wunsch oder besser Befehl zu einer Soldatenlaufbahn verpflichtet. Und auch Sohn und Enkel werden einmal dem Kaiser von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, werden jeder auf seine Weise die Widersprüche, den späten Glanz und schließlich den Untergang der Monarchie, gesellschaftlich, militärisch und nicht zuletzt ideell, spiegeln.

An drei Schauplätzen, die in ihrer Gesamtheit ein bezeichnendes Bild des Vielvölkerstaats wiedergeben, lässt Roth diesen Untergang sich vollziehen, in einer mährischen Bezirkshauptstadt, in Wien und an der österreichisch-ungarisch-russischen, in der heutigen Ukraine gelegenen Grenze. Viel Platz nimmt dabei - der Kaiser braucht bekanntlich Soldaten - das Militär ein: genaue Schilderung erfährt der kaiserlich-königliche Kasernenalltag zwischen Exerzieren, Casino- und Bordellbesuchen, das anscheinend wirklich unvermeidliche Ehrenduell fehlt nicht nur nicht, sondern stellt in seiner erzählten Intensität geradezu die Quintessenz des Ganzen dar, und wie alle, die sie erlebt haben, zeigt sich auch Joseph Roth voll Bewunderung für die Reitkünste der zaristischen Kosaken. Österreich-Ungarns krasses wirtschaftliches und soziales Ungleichgewicht verdichtet sich zu ersten Arbeiterdemonstrationen, und anhand eines Sommerfests, in welche das Gerücht von der Ermordung des Thronfolgers platzt, wird die Komplexität der schwelenden Nationalitätenkonflikte fühlbar.
Überhaupt beherrscht Joseph Roth das Stilmittel der Andeutung in hohem Maß, ob er nun einen längeren Zeitraum überspringt, ihn nichtsdestotrotz im Vorher und Nachher erahnen lässt, kulturelle Feinheiten wie gemessene Arroganz wiedergibt oder Gefühle lieber in Dialogen und Bildern umreißt als sie benennt - als künstlerisch vollendet soll in diesem Zusammenhang eine Szene genannt werden, in der ein Offizier mit einem Polizeiwachtmeister, mit dessen Frau er ein Verhältnis hat, ein scheinbar harmloses Gespräch führt, bei dem das Unausgesprochene den Raum zwischen den Zeilen förmlich vor Energie vibrieren lässt.

Ziemlich sympathisch, selten mit leichtem Spott, wird der alte Kaiser gezeichnet, als freundlicher, Kerzenlicht dem elektrischen vorziehender Herr, der allein durch die Tatsache, dass er noch lebt und den Anspruch, Herrscher von Gottes Gnaden zu sein, in Bescheidenheit und guten Willens zu verkörpern trachtet, den Vielvölkerstaat so einigermaßen zusammenhält. So gut es halt geht, denn von dem unaufhaltsamen Wertewandel bekommt Franz Joseph mehr mit, als seine höfische Umgebung, die er durch allzuviel Einsicht nicht aufregen will, ahnt. Joseph Roth bezieht verschiedene in Umlauf befindliche Anekdoten in sein Bild von Franz Josephs Persönlichkeit mit ein, die er allerdings, sofern sie dem Portraitierten nicht zum Ruhm gereichen, möglichst entschuldigt, das Sympathische wiederum leicht verstärkt, dies alles mit der Tendenz, ihn als würdigen Repräsentanten einer statischeren, aber weniger nervösen und vor allem sakraleren Welt als der darauffolgenden darzustellen. Dass der Herrscher angesichts einer klaren Vision vom Untergang seines Reiches nur "Da kann man nix machen" denkt, erscheint der Schicksalsergebenheit denn doch zu viel bzw. erweist sich, wenn man des Profeten Mitschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedenkt, eher als Schuss nach hinten.
Jedenfalls leuchtet der Glanz einer alten Kultur in und um ihn herum noch einmal auf, und nicht alles davon ist ja mit seinem Tod im November 1916, womit auch Joseph Roths "Radetzkymarsch" endet, gestorben; so darf (oder muss) davon ausgegangen werden, dass beispielsweise der Straußsche Radetzkymarsch, der sich leitmotivisch durch die beschriebenen Milieus zieht und bei dem es sich, wie einer der Trottas befindet, am leichtesten für den Kaiser sterben lässt, beim nächsten Neujahrskonzert, in welchem Jahr das auch sein mag, wieder zu hören sein wird.

(fritz; 05/2004)


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