Paul Chaim Eisenberg: "Erlebnisse eines Rabbiners"

Geschichte und Geschichten
In Zusammenarbeit mit Evelyn Adunka


Paul Chaim Eisenberg ist seit 1983 Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien. Als gerade einmal dreiunddreißigjähriger Rabbiner trat er nach Tätigkeiten und Ausbildungen in Jerusalem die Nachfolge seines Vaters an.
Eisenberg gelingt es mit diesem sehr persönlich geprägten Buch sowohl, einen Überblick über die lange Geschichte der Wiener Juden zu geben, (hier hat ihn vor allem Evelyn Adunka mit ihren Forschungen unterstützt), als auch einen Einblick zu verschaffen in das religiöse, geistliche und soziale Leben einer jüdischen Kultusgemeinde, und er beschreibt die vielfältigen Aufgaben eines Rabbiners.

180.000 Juden lebten vor der Shoa in Wien. 65.000 von ihnen wurden ermordet, den anderen gelang rechtzeitig die Flucht (vgl. Vivian J. Kaplan "Von Wien nach Shanghai"). 120.000 österreichische Juden muss es demnach nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus weltweit gegeben haben, resümiert Eisenberg:
"Nun müsste man annehmen, dass nicht sofort, aber doch im Laufe der ersten Jahre nach 1945 Zehntausende ehemalige österreichische Juden heimkehren würden. Dem war aber nicht so. Die Gründe dafür waren sicher vielfältig, aber ich möchte hier nur zwei generelle Tendenzen erwähnen. Da war einerseits die Zurückhaltung von Seiten der Österreicher. Viele aus Österreich geflüchtete oder vertriebene Juden wären gern zurückgekehrt. Aber von keinem Politiker und von keiner Partei waren Worte der Einladung oder zumindest Ermunterung dazu zu hören. Es gab nur eine rühmliche und vielzitierte Ausnahme, den Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka von der KPÖ, dessen Einladung sich aber nur auf Künstler und Intellektuelle bezog. Später erinnerte sich Matejka daran mit den Worten, dass er sich damit 'die kältesten Füße seines Lebens' geholt hatte. Die SPÖ war nicht einmal bereit, ihre früheren verdienten Stadträte Hugo Breitner und Wilhelm Ellenbogen, die in hohem Alter in den USA lebten und in Wien nur noch ihre letzten Jahre verbringen wollten, zurückzuholen. Man befürchtete wohl auch die Forderungen nach individueller und allgemeiner Restitution. Bundespräsident Karl Renner - nach dem bis heute das Renner-Institut benannt ist - sagte 1946 gegenüber dem britischen Labour Minister Richard Crossman, dass er nicht glaube, dass Österreich in seiner jetzigen Stimmung Juden noch einmal erlauben würde, diese Familienmonopole (er bezog sich auf den jüdischen Handel) aufzubauen. 'Sicherlich würden wir es nicht zulassen, dass eine jüdische Gemeinde aus Osteuropa hierher käme und sich hier etablierte, während unsere eigenen Leute Arbeit brauchen'".

Doch bei aller nachträglichen Empörung, die aus diesen Worten spricht, gesteht Eisenberg seinem Land zu, dass es gelernt hat. Er, der sich als gemäßigt orthodox beschreibt und einen Teil seiner Tätigkeit als Rabbiner damit verbringt, die widerstrebenden und miteinander konkurrierenden Richtungen in seiner Gemeinde zu befrieden, wirkt mit zunehmendem Alter und mit wachsender Erfahrung auch in der österreichischen Gesellschaft entsprechend vermittelnd und mäßigend.
Er tritt auch hier in die Fußstapfen seines Vaters Akiba Eisenberg: "Seit der Gründung des Staates Israel hatte Oberrabbiner Akiba Eisenberg das Gebet um das Wohl des jüdischen Landes neben jenes um das Wohl um die Republik Österreich gestellt."

Eine Begebenheit, die Eisenberg in seinem absolut lesenswerten Buch schildert, ist symptomatisch für seine Sicht der Dinge. 1996 diskutiert er mit einem Moslem und einem katholischen Theologen Über das Thema "Abrahams Erben. Absoluter Wahrheitsanspruch versus interreligiösem Dialog - die drei monotheistischen Religionen im Gespräch". Als er in den Saal kommt, denkt er, die an Kleidung und Kopfbedeckung erkennbaren moslemischen Fundamentalisten würden vielleicht ihm gegenüber aggressiv werden. Aber sie "unterbrachen häufig nicht mich, sondern den moslemischen Sprecher, der die gemäßigte Linie des Islam vertreten hat. Sie unterbrachen ihn besonders dann, wenn er Stellen aus dem Koran zitierte, die liberal klangen. Bei dieser Gelegenheit zitierten sie aggressivere, gegen Nichtmoslems eher unfreundliche Koranstellen. Ich habe daraus den Schluss gezogen, dass die gemäßigten Vertreter verschiedener Religionen einander manchmal besser verstehen als Menschen gleicher Religion, wenn es sich einerseits um gemäßigte und andererseits um fundamentalistische Vertreter dieses Glaubens handelt.
Man könnte noch schärfer formulieren: Die gemäßigten Vertreter sind sich darin einig, dass sie an einem Tisch sitzen könnten. Die extremen Kräfte sind sich einig darin, dass die anderen zu bekämpfen seien."

Eisenberg widmet sein Leben diesem Dialog, und er arbeitet unermüdlich für das Zusammenleben der Juden in Wien. Wie dieses tägliche Pensum aussieht, wie eine jüdische Gemeinde lebt, wie ihre Kinder aufwachsen und unterrichtet werden, wie sie sich sozial engagieren gemäß ihres Glaubens, all dies kann man aus diesem wunderbaren Buch erfahren.

Man schließt es mit dem Wunsch, diesen Rabbi einmal persönlich kennen zu lernen.

(Winfried Stanzick; 08/2006)


Paul Chaim Eisenberg: "Erlebnisse eines Rabbiners"
Molden Verlag, 2006. 272 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Paul Chaim Eisenberg wurde am 26. Juni 1950 Wien geboren. Er stammt aus einer Rabbinerfamilie, studierte Mathematik und Statistik in Wien, dann Rabbinatsstudium in Jerusalem. Seit 1988 auch Oberrabbiner des Bundesverbandes der Kultusgemeinden Österreichs. 1988 Mitbegründer und Ehrenpräsident des "Jüdischen Institutes für Erwachsenenbildung". Zahlreiche Publikationen in verschiedenen Zeitungen und Sammelbänden.