Viktor Pelewin: "Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin"


Wenn der Übergang zum Zustand gerinnt
Extravagante Fingerübungen mit Denklehren und Denkleeren


Die Jahre des Wartens sind vorüber, die Erwartungen an Viktor Pelewins Roman entsprechend hoch. Für "Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin" wurde der 1962 in Moskau geborene eher öffentlichkeitsscheue Autor mit dem russischen Literaturpreis "Nationaler Bestseller" ausgezeichnet.

Viktor Pelewin ist der russische Kultautor; ein Ruf, den ihm seine Romane "Buddhas kleiner Finger" (1999) und "Generation P" (2001) eingebracht haben. Man durfte folglich gespannt sein, welche Gestalt des Autors Lieblingsmotive über die Jahre angenommen haben und wohin uns seine Fabuliergelüste diesmal entführen. Wenngleich "DPP (NN)", so der deutlich weniger sperrige abgekürzte Originaltitel, ein insgesamt dunkleres Stimmungsbild als seine Vorgänger zeichnet, erwartet den Leser das vertraute vergnüglich unverfrorene Gemenge aus Materialismus und Magie, Esoterik und Ereignissen aus Wirtschaft und Politik, wobei für Pelewins Landsleute ein zusätzlicher Reiz darin besteht, prominente Zeitgenossen als Vorbilder etlicher Romanfiguren auszumachen. Auch muss man weder auf bittersüße Kostproben des Kapitalismus russischen Zuschnitts oder existenziellen Lebensschmerz, noch auf tragikomische Schilderungen mafioser ("die Familie") bzw. geheimdienstlicher Beziehungsgeflechte verzichten.
Pelewin bleibt sich bei der in der Putin-Ära angesiedelten Handlung treu: Er zaubert routiniert zeitgeistige Versatzstücke der materiellen wie auch der spirituellen Populärkultur aus dem Hut (oder sollte man eher sagen: seiner Tarnkappe?), und wie immer grundiert er seine Romanfläche gekonnt mit verwaschenen Nostalgieschattierungen der russischen Seele, skizziert eine Geschichte vom Auf und Ab eines neureichen verhaltensauffälligen Protagonisten, der oftmals mehr Glück als Verstand hat (insofern ein typischer Narr ist), und setzt mit leichter Hand skurrile wie auch schrille Szenen als leuchtende Farbtupfer dazwischen.

Manche Literaturkritiker meinen, Viktor Pelewin sei ein "Chronist der russischen Gegenwart". Entspräche diese Etikettierung der Wahrheit, ergäbe sich konsequenterweise die Frage, wo sich all die anderen Autoren vom Schlag Pelewins verborgen halten, denn die russische Gegenwart böte seit dem Untergang der Sowjetunion (1991) reichlich Rohstoff für literarische Modemacher! Aber lediglich Geschichtsschreiber seiner Epoche zu sein macht einen Autor bekanntlich noch lange nicht zu einem begnadeten Erzähler, wie Pelewin einer ist.

In "Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin" wird die flott erzählte Geschichte des neureichen, unter der oberflächlichen Angepasstheit an die allen Verwestlichungsschüben zum Trotz andauernde, kaum Orientierung bietende "Übergangsperiode", verhaltensauffälligen Bankengründers Stepan Michailow gesponnen, dessen Werdegang schicksalhaft - oder anders gesagt zwanghaft (je nach persönlicher Weltsicht) - mit Zahlen verknüpft ist. Um Schleusen in andere Wahrnehmungswelten einzubauen, spielen im Verlauf der Geschichte Prophezeiungen keine geringe Rolle.
Wie alle bisherigen Romane Pelewins kommt auch dieser bedächtig in Gang, bevor der unverkennbare Erzählsog einsetzt.
Weil vorhin vom "verhaltensauffälligen" Protagonisten die Rede war scheint der Moment nicht ungünstig, einen kurzen Blick auf Zwangsstörungen zu werfen:
Eine Person leidet unter Zwangsstörungen, wenn sie sich dazu getrieben fühlt, mehr oder weniger individuell feststehende Rituale (diese dienen als Angstbewältigungsstrategie) oder auch ständig bestimmte gleich ablaufende Handlungen auszuführen (z.B. Hände waschen, zählen, sammeln, ordnen, ...), die kaum jemals in sogenannten "nützlichen" Verrichtungen bestehen, oder die immer gleichen Gedankengänge ablaufen zu lassen. Nicht selten sind diese Rituale zeitaufwändig, bisweilen kommen magische Praktiken zum Einsatz, und überwiegend werden die zwanghaften Pflichthandlungen von der ausführenden Person selbst als völlig unsinnig erlebt. Dennoch ist ein Unterlassen gänzlich undenkbar. Auf ein (zwangsweises) Abgehen von den Ritualen wird mit Erregung und einem diffusen Gefühl des Unbehagens und der Panik, auch der Sorge vor herannahendem Unheil reagiert, es wird eine Katastrophe bei Nichtausführen befürchtet. Heimtückischerweise sind die Grenzen zwischen Strukturierungshilfen für den Alltag und Zwangsstörungen fließend.

Gut vorstellbar, dass der Autor selbst bisweilen zufrieden nickt oder auch diabolisch lächelt, wenn er seinen jeweiligen Helden detailverliebt mit ausgesuchten psychischen Besonderheiten ausstattet, um diese im Verlauf der Romanhandlung bis zum Exzess auszureizen; bieten sich Narren aller Art doch geradezu an, absurden Situationen des Alltags mit überraschenden Reaktionen zu begegnen. Frei nach dem Motto, dass sich vor allem Narren in einer närrischen Welt heimelig fühlen ...

In "Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin" handelt Stepan Michailow (auch diesmal erhielten die Romanfiguren in der deutschen Übersetzung vom Originaltext abweichende Namen) unter dem Diktat bestimmter Zahlen, seiner Glückszahl 34 einerseits und deren Gegenspieler, 43. Weil er ausgesprochen magisch denkt, kann er lange Zeit tatsächlich Unheil von sich abwenden und an die Effektivität seines eigenen Verhaltens glauben. Naheliegend, dass er, um der Welt der Zahlen treu zu bleiben, ein Bankinstitut gegründet hat, das er streng nach seinen zwanghaften Grundsätzen führt.
Also ist es nur logisch, dass Pelewins Protagonist vorerst auf eine Weise Erfolg hat, die seinen Mitmenschen unverständlich weil unzugänglich ist, die sich herkömmlichen Erklärungsversuchen, der Nachahmung und den Anforderungen der Marktwirtschaft widersetzt oder schlicht entzieht. Michailow ist gewissermaßen der Normalität gegenüber immun.
Daher ist es auch nicht notwendig, dass er sonderlich gerissen oder gebildet ist; die magische Kraft seiner Rituale leitet ihn - eine Lebenseinstellung, die für heitere Situationen sorgt, jedoch auch Opfer fordert. Und wenn vorhin festgestellt wurde, Michailow sei der Normalität gegenüber immun, ist dies im Pelewinschen Universum erst der Auftakt zu einem Abflug ins Ungewisse.
Im Spannungsfeld zwischen seiner Sonnen- und Mondzahl, einem verheißenen Gegner "Mondbruder", den Stepan im ebenfalls als Finanzjongleur tätigen Mark Firkin erkennt, seinem unter einem schlechten Stern stehenden 43. Geburtstag und einer gleichfalls zahlenhörigen Gefährtin, der beinahe luftdicht andockenden Partnerin namens Meowth, die sich als Sargnagel erweisen soll, findet sich Stepan in irrwitzigen Situationen wieder.
Es versteht sich von selbst, dass sämtliche Kapitelnummerierungen - je nachdem, wie es dem Protagonisten gerade ergeht - konsequent dem einmal eingeführten Bedeutungsschema verpflichtet sind.
Auch dem "Buch der Wandlungen", das Stepan durch Prostislaw, den Wahrsager und geistigen Ratgeber einer Teehandelsfirma, kennen lernt, kommt entscheidende Bedeutung zu.

Falls der in der Übersetzung vordergründig rein lautmalerisch scheinende Name der zahlenbesessenen Gefährtin Stepans, "Meowth", keinerlei Assoziationen auslösen sollte: "Meowth" heißt eine bestimmte Pokémon-Figur in Gestalt einer sprechenden Kratz-Katze, die in den deutschsprachigen Versionen der Spiele und Zeichentrickserien "Mauzi" genannt wird. Und "Pokémons" (in etwa "Taschenmonster") wiederum sind bei Kindern populäre sonderbare Zeichentrickgeschöpfe mit dem Potenzial, zu Kampfbestien zu mutieren - insofern also geradezu menschlich.
Was es bedeutet, dass Stepan - nicht nur von Meowth - "Pikachu" genannt wird, wer "Eselchen Siebencent" ist, wie drei Stück Lingam des Sieges nach Pelewin-Art zum Einsatz kommen, wer bei Tatarski (einer aus "Generation P" bekannten Figur) in die Lehre gegangen ist, warum sich Michailow mit homosexuellen Praktiken anfreunden muss ... - dies und viel mehr offenbart "Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin".
Insgesamt herrscht ein lockerer Erzählton, der das Unerwartete gediegen einhüllt und einschleust wie der sprichwörtliche Schafspelz den Wolf. Prägnante Dialoge bilden aufeinanderprallende (Sprach-)Welten ab, und die im Gesellschaftsalltag geschwürartig wuchernde englische Phrasendrescherei wird als die Hohlheit entlarvendes Stilmittel verwendet. Aus salopper Umgangsprache, Formulierungen aus Werbe- und Medienwelt, deftigen Szeneausdrücken und Schimpfwörtern entsteht ein opalisierendes Gemisch.

Einzig das befremdlich abrupte Finale des Hauptstücks, das etliche zuvor gesponnene Handlungsfäden kurzerhand kappt, hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. Pelewin hat sich diesmal für ein schlichtes offenes Ende ohne Knalleffekt entschieden. Jedoch empfindet man dieses in etwa so, als säße man an einer reich gedeckten Tafel, und die aufgetischten Köstlichkeiten würden von übereifrigen Kellnern während der Mahlzeit abserviert. Daran ändern auch die exotischen Nachspeisen nichts.
Konkret handelt es sich um Textabschnitte, welche bisweilen Personen oder Motive des Hauptstücks aufnehmen, jedoch durchaus auch für sich stehen können. Sei es "Die mazedonische Kritik der französischen Philosophie" (übersetzt von Dorothea Trottenberg) - eine bizarre Ausmaße annehmende individuelle Betrachtung wirtschaftlicher Zusammenhänge, "Ein Vogue" (nein, kein Tippfehler!) - ein mit Markennamen beladener Kurzauftritt Meowthys in einer Damentoilette, "Akiko" - die köstliche Geschichte um eine durchtriebene Porno-Netzseite und einen ungestümen Nutzer, oder "Focus Group" - charakterlich unterschiedliche Verstorbene unterhalten sich im "Wartesaal vor dem Paradies" mit einem Lichtwesen über Sein und Nichtsein, menschliche Wünsche und Erwartungen, bis zum Ende, das ein Anfang ist ...
"Focus Group" variiert somit das Thema "von Nirgendwoher nach Nirgendwohin" ein letztes Mal.

Der Roman schließt mit dem Satz: "Und immer dann ging durch die metallenen Blüten ein wellenartiges Beben, ein langgezogener Klagelaut flog über die Wüste hin, einem Hilferuf ähnlich oder einem Stöhnen, erfüllt von Mitleid mit den für immer verlorenen Seelen."

(kre; 10/2004)


Viktor Pelewin: "Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin"
(Originaltitel "Dialektika Perechodnogo Perioda iz Niotkuda v Nikuda" oder kurz "DPP [NN]")
Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Gebundene Ausgabe:
Luchterhand, 2004. 348 Seiten.
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Taschenbuch:
btb, 2006.
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Lien: russischsprachige Netzseite von Viktor Pelewin

Leseprobe:

I
Die Idee, mit der Sieben einen Pakt zu schließen, reifte in Stepan Michailow ungefähr zu der Zeit, da er zaghaft begann, über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nachzudenken und nachzulesen. Zunächst äußerte sich die Allianz in ganz primitiver Form: Stepan malte für unterschiedliche Lebensfälle unterschiedlich aussehende Siebenen. Eine große, doppelwandige über eine ganze Seite zum Beispiel war gut gegen Kinder, die älter und stärker waren als er. Vier spitzwinklige Siebenen in den vier Ecken eines Blattes sollten den wilden Bettnachbarn im Krankenhaus Einhalt gebieten, wenn die während der Mittagsruhe angeschlichen kamen, um ihm das Kissen auf den Kopf zu hauen oder irgendeine Scheußlichkeit vor die Nase zu legen. Eine Reihe unerfreulicher Vorfälle, vor denen die Sieben eigentlich hatte schützen sollen, zeigte jedoch, daß diese Methode nicht verfing.
Stepan kam zu dem Schluß, daß die Kraft einer einzelnen Sieben nicht genügte, und er ging daran, Seite für Seite mit zahllosen blauen Häkchen zu füllen, wobei er sich vorkam wie ein Feldmarschall, der sein Heer aufstellt, um mit ihm die Welt zu erobern. Nur daß diese Armee, wie sich bald herausstellen sollte, keine Lust zum Kämpfen hatte. Die blauen Flecke, die Stepan aus dem Sommerferienlager nach Hause brachte, nachdem er genau sieben Hefte mit Siebenen vollgeschrieben hatte, waren der schlagende Beweis dafür.
Stepan dachte darüber nach, wenn er nach der Schule die stillen Wäldchen und Schätze bergenden Müllkippen am Stadtrand von Moskau durchstreifte - bis er eines Tages die Erklärung fand. Stets hatte er aus irgendeinem Grunde vorausgesetzt, daß die Sieben in all seine Pläne eingeweiht war. Daß seine Gedanken, sowie sie in seinem Kopf entstanden, ganz selbstverständlich zu ihr fanden. Doch man mußte sich einmal vorstellen, wie viele seinesgleichen es auf der Welt gab! Stepan ahnte, daß er etwas tun mußte, um die Aufmerksamkeit der Sieben auf sich zu lenken. Damit sie von dem Bund, den er mit ihr schließen wollte, überhaupt erfuhr, damit er sich für sie abhob aus der Menge.
In den Schulstunden wurde erzählt, daß die Menschen im Altertum den Göttern Opfer darbrachten, wenn sie sie anrufen wollten. Nun war die Sieben vielleicht nicht dieselbe Art Gott wie Zeus oder Apollo, aber daß sie in übermenschlichen Dimensionen siedelte, stand fest. Gut möglich also, daß die alten Techniken funktionierten.
Zum Beispiel hatte man, wie Stepan wußte, den alten Göttern Stiere geopfert, die man zu diesem Zweck verbrannte. Über Wochen trug er sich ernsthaft mit dem Gedanken, an einem der genossenschaftlichen Kuhställe in der Nachbarschaft seiner Datscha eine rituelle Brandstiftung vorzunehmen. Eine Flasche mit Benzin und einige Streifen aus einem Fahrradschlauch, die als Zündschnur dienen sollten, lagen bereit. Erst im letzten Moment überlegte Stepan es sich anders. Das Projekt war wohl doch eine Nummer zu groß für ihn.
Aber das Benzin hatte er nicht umsonst besorgt. Stepan klaute zu Hause sieben Büchsen Rindfleisch: kriegstaugliche Blechzylinder mit einem Stierkopf im Oval, der ihn an die Emaillebilder auf alten Friedhofskreuzen erinnerte. Ein so umfängliches Opfer bedurfte eines ordentlichen Feuers, er versengte sich die Hand dabei, doch alles in allem verlief das Ritual, das er im Wald in der Nähe seines Hauses vollzog, ohne Komplikationen.
Der Gestank des verschmorten Fleisches erinnerte an etwas weit Zurückliegendes, Verschüttetes, plötzlich fiel ihm, wer weiß woher, sogar ein Wort dafür ein: feurige Gehenna! Die Empfindung war zu flüchtig, um ihr nachzugehen - Halluzination des Gedächtnisses, Nachklang von etwas, das ihm ganz bestimmt nie widerfahren war. Und trotzdem war es dieses seltsame Hirngespinst, das ihm die Augen öffnete: für seinen Irrtum.
Worin bestand der Sinn eines Opfers? Dem Himmel wurde dargebracht, was das Seine war: Leben, Geist und Seele. Während dieses blasse Rindfleisch aus den strategischen Beständen der UdSSR nur die alte Verpackung längst verwehter Lebenskraft war - so wie die Blechbüchsen die Verpackung für das nunmehr verkohlte Fleisch. Dem Geist tote Materie opfern zu wollen war das gleiche, wie eine leere Pralinenschachtel zum Geburtstag zu verschenken. Da waren selbst die alten Zaunlatten noch geeigneter, mit denen er das Feuer entfacht hatte, denn an ihnen wuchsen wenigstens lebendige Schimmelpilze.
Der nächste Schritt war einfach und logisch. Stepan faltete sieben Zeitungsseiten zu einer schönen langen Fliegenklatsche und ging daran, Fliegen, die vom Hof in die Küche geflogen kamen, ins Jenseits zu befördern. Damit ihre Seelen an die richtige Adresse gerieten, flüsterte Stepan bei jedem Treffer einen Vers, von dem er nicht wußte, wo er ihn herhatte: "Sieben Ziegen blieben liegen, sieben Fliegen flogen weg." Fraglich blieb, wie viele Fliegen unter Aufsagen dieses Zungenbrechers zur Sieben zu schicken anstand, ob sieben mal sieben oder siebenundsiebzig. Stepan entschied sich für die zweite Variante und war der gelobten Zahl schon ganz nahe, als ein plötzlicher Wink des Schicksals sein Projekt mit einem Schlag hinfällig machte.
Er kam von einem Buch, das der Vater auf dem Küchentisch hatte liegenlassen, genauer gesagt, von einem Satz nur, der dort stand, wo das Buch aufgeschlagen war und Stepans Blick zufällig hängenblieb. Es ging um einen Kundschafter mit Namen Stirlitz, der beim Verfassen einer Falschmeldung darauf achtete, daß die Summe der darin vorkommenden Zahlen sieben ergab, da er an die Sieben als Glückszahl glaubte.
Stepan begriff, wie wenig konkurrenzfähig er mit seiner Fliegenklatsche in einer Welt voller Erwachsener war, die ihren Blick ebenso wie er auf Zeichen und Wunder richteten. Ihre Möglichkeiten waren ungleich größer; manche von ihnen konnten Millionen Menschen an eine magische Adresse senden - das war etwas anderes, als Fliegen zu klatschen. Erwartete er wirklich, daß die von so vielen mächtigen Verehrern umschwärmte Sieben ausgerechnet auf ihn achtgab? Reichlich naiv. Genauso hätte man von einem Elefanten mit Blasmusikbegleitung verlangen können, eine vorübersirrende Mücke zu bemerken.
So kam es, daß Stepan für längere Zeit den Glauben verlor, aus dem magischen Bund mit Zahlen irgendeinen Nutzen ziehen zu können. Schon die Idee, daß ein solcher Bund überhaupt möglich war, kam ihm zweifelhaft vor.
Es brauchte ein paar Jahre, in denen die Wunde in seiner Seele vernarbte, ehe ihm zu Ziffern und Zahlen wieder etwas einfiel.
Die Sieben war Everybody’s Darling. Wer warb nicht alles um sie! Britische Superagenten, Märchenhelden, Städte, die zufällig auf sieben Hügeln standen, und ganze Engelshierarchien, die einem siebten Himmel anhingen. Die Sieben war eine teure, verwöhnte Kurtisane, und so konnte es nicht verwundern, daß Stepans schüchterne Avancen unerwidert geblieben waren. Nur: Es gab ja noch andere Zahlen auf der Welt.
Allerdings war Stepan aus trauriger Erfahrung klug genug, sich bei der Wahl einer neuen Zahl nicht zu übereilen. Welcher auch immer er sich als nächster zuwenden würde - es ließ sich denken, daß genügend Leute auf der Welt bereits dieselbe Wahl getroffen hatten. Und je größer die Konkurrenz, desto geringer die Aussicht, daß die erkorene Ziffer auf seinen Zauber ansprach oder wenigstens seine Existenz zur Kenntnis nahm. Andererseits war es logisch anzunehmen, daß zwei- und dreistellige Zahlen weit weniger Aufmerksamkeit genossen.
Die Intuition sagte ihm zwar, daß Zahlen von eins bis neun mächtiger waren als zweistellige, diese wiederum stärker als Dreisteller und so weiter. Doch hatten sich ihm Caesars Worte aus dem Geschichtsunterricht eingeprägt: "Ich will lieber in einem gallischen Dorf der erste sein als in Rom der zweite." (Die Lehrerin hatte sich, nebenbei gesagt, versprochen und gesagt: "Ich will lieber in Rom der erste sein als in einem gallischen Dorf der zweite", aber den Fehler hatte Stepan gleich bemerkt - so wenig Selbstvertrauen war einem römischen Kaiser nicht zuzutrauen.) Und so machte er sich gelassen auf die Suche nach seinem gallischen Dorf.
Nach reiflicher Erwägung fiel seine Wahl auf die Zahl 34. Deren Quersumme ergab sieben. Was die 34 mit einer Art göttlicher Genealogie versah, so wie gewisse griechische Heroen von Göttern abstammten. Stepan war seiner früheren Gottheit nicht untreu geworden, er hatte lediglich einen vernünftigeren Weg gefunden, sie zu kontaktieren. Eine Besonderheit kam hinzu, die die Drei und die Vier mit der Sieben verband - sie waren farbig. Stepan konnte sich entsinnen, daß für ihn früher, als er noch klein war, sämtliche Ziffern eine Farbe gehabt hatten. Inzwischen waren die meisten verblaßt: Nur die Vier war erkennbar grün geblieben, die Sieben blau, und die Drei trug auf ihrem mittleren Balken Reste von Orange.
Es gab noch etliche Überlegungen mehr, die für Stepan eine Rolle spielten. Eine davon war, daß der T-34 der fähigste russische Panzer im Zweiten Weltkrieg gewesen war - Ruhm und Erfolg mußten auf die Zahl abgefärbt haben.
Jedenfalls reifte die Entscheidung in ihm so langsam, daß er am Ende nicht mehr hätte sagen können, ob er die 34 gewählt hatte oder sie ihn.
Er war inzwischen kein kleiner Junge mehr. Die Schulzeit näherte sich dem Ende, und auf seiner Oberlippe sproß ein kleiner schwarzer Schnurrbart - wie zwei Minuszeichen, von denen er hoffte, daß sie irgendwann das von der Mathematik verheißene Plus ergeben würden. Er war besonnener geworden. Froh darüber, nun wieder einen Patron in der Welt der Zahlen zu haben, verzichtete er auf grausame Fliegenopfer. Tote Fliegen gingen seine 34 nichts an, wohl nicht einmal tote Menschen, das sah er nun ein. Er mußte einen anderen Weg gehen. Anstatt sinnlose magische Rituale zu vollziehen, mußte er dieser Zahl sein ganzes Leben weihen, die Verschmelzung mit ihr anstreben, indem er tagtäglich mit größtem Eifer seine Hingabe unter Beweis stellte.
Stepan begann damit, daß er nicht mehr wie zuvor um sechs Uhr dreißig aufstand, sondern um sechs Uhr vierunddreißig. Entsprechend rückten alle anderen von ihm zu beeinflussenden Punkte im Tagesablauf vier Minuten weiter. War ein Treffen um halb sechs vereinbart, kam er vier Minuten später, trödelte notfalls noch ein bißchen in der Vorhalle der Metrostation herum, nur um dem Zeiger Zeit zu geben, die paar Striche weiterzurücken. Für den Fall, daß der rationale Teil des Verstandes ihm einflüsterte, dies sei doch bescheuert, hatte er übrigens eine rationale Antwort parat:
Alles um uns her ändert sich immerzu, die Welt im Augenblick summiert sich aus anderen Umständen als die eine Sekunde früher oder später. Auch die Menschen, mit denen wir es zu tun haben, verändern sich unentwegt, verhalten sich je nachdem, welche Gedanken gerade in ihren Gehirnkästen aufblitzen. Schon dadurch also, daß wir im Kontakt mit der Welt eine bestimmte Position in Raum und Zeit einnehmen, betreiben wir eine durchaus bodenständige Magie - vielleicht sogar die einzig mögliche: weil wir jedesmal neu entscheiden müssen, in welche der Welten wir eintreten. In der einen erwartet uns ein vom Fenstersims fallender Topf mit Begonien oder ein um die Ecke brausender Lastwagen, in der anderen das freundliche Lächeln einer fremden Schönen oder die pralle Geldbörse am Bordstein, und all dies wohlgemerkt auf ein und derselben Straße … Derlei Formulierungen fand Stepan natürlich erst viel später, zu einer Zeit, da er gelernt hatte, Zahlen zu Geld zu machen. Der zugrundeliegende Gedanke aber, roh und unausgeformt, war ihm schon als Schulkind vertraut.
Beim Einschlafen zählte er nun nicht mehr bis hundert, sondern bis vierunddreißig, und dann noch einmal bis vierunddreißig und immer so weiter. Wenn er nicht wußte, an welchen Tisch im Café er sich setzen sollte, zählte er so lange im Kreis, bis er bei vierunddreißig anlangte. Vor dem Sprung von der Landungsbrücke ins Meer atmete er vierunddreißig Mal tief und schnell durch. Immer wenn eine Entscheidung zu fällen war, ließ er sich auf irgendeine Weise von der gelobten Zahl leiten. Dies gab ihm das Gefühl, daß er auf Kurs war - einem einzigartigen noch dazu, der seines von allen übrigen Menschenleben unterschied. Und wiewohl sein Lebensweg äußerlich nicht von dem seiner Altersgefährten abwich, gewann er etwas Besonderes. Stepan mußte ihn nur eine ausreichende Weile gehen, um plötzlich eine Erfolgsbestätigung nach der anderen zu ernten. Oder war er früher nur nicht in der Lage gewesen, sie zu sehen?
Einmal, eines schönen Sommertages, saß er zu Hause und sah zerstreut aus dem Fenster. Plötzlich hallte von der Straße ein Wummern herein - auf einer Baustelle trieben sie mit einer Ramme Eisenträger in den Boden. Stepan hatte unwillkürlich angefangen zu zählen. Es wurden genau vierunddreißig Stöße, dann stoppte die Maschine und ließ sich nicht wieder hören. Daran wäre nun gar nichts Besonderes gewesen - hätte Stepan nicht einen Moment vor Einsetzen des Krachs den Gedanken gehabt, daß er eigentlich immer noch nicht wußte, ob es ihm gelungen war, das Herz seiner neuen Gottheit zu gewinnen. Und wohlgemerkt geschah dies an einem Sonntag, wo auf Baustellen nicht gearbeitet wird. Dieser Umstand in seiner Unumstößlichkeit war für Stepan der letzte Beweis: Das Geschehene war ein Zeichen.
Ein andermal - neue Zweifel hatten Stepan heimgesucht - schaltete er, einer Eingebung folgend, den Fernseher ein. Die Bilder kamen ihm bekannt vor: Es lief eine Folge der alten polnischen Abenteuerserie Drei Panzersoldaten und ein Hund. Drei Soldaten, Viererbesatzung - eine 34, hurra! Doch schon im nächsten Moment bemerkte er seinen Irrtum. Es waren drei Musketiere, aber vier Panzersoldaten. Gut, also dann drei Musketiere (Athos! Porthos! Aramis!) - und mit D’Artagnan waren sie zu viert! …
Der schale Beigeschmack dieser etwas sehr zurechtgebogenen Herleitung ließ sich ertragen - denn der Panzer, auf dem die polnischen Hundenarren herumfuhren, war ein T-34.

17
Am Morgen seines siebzehnten Geburtstags - schon deshalb ein besonderer, weil zweimal siebzehn vierunddreißig war - beschloß Stepan, sich und die Zahl seiner Wahl einer ultimativen Prüfung zu unterziehen. Er stellte ein Orakel auf: Der Pakt würde ihn nur dann ans Ziel seiner Wünsche bringen (was das für ein Ziel war, hätte er einstweilen noch nicht sagen können), wenn die Nummer der Kinokarte, die er heute zu kaufen gedachte, die Ziffern 3 und 4 enthielt. Um dem Ereignis auch zeitlich Gewicht zu verleihen, wählte er ein Kino am anderen Ende von Moskau. Die einstündige Metrofahrt war wie die Besteigung eines Tempelberges, bei der die Sünden, die man in der profanen Welt auf sich geladen hat, von einem abfallen.
Die Kinokarte kaufte Stepan genau vierunddreißig Minuten vor Vorstellungsbeginn. Er trat auf die Straße, holte tief Luft und schaute nach - wie ein Spieler, der die alles entscheidende Karte aufdeckt.
In der sechsstelligen Zahl kamen weder Dreien noch Vieren vor. Er hatte elfte Reihe, Platz Nummer fünfzehn. Stepan spürte, wie die Welt, die er sich so viele Jahre Stück um Stück zusammengepuzzelt hatte, mit einemmal zu Bruch ging. Er war durchgefallen.
Im nächsten Geschäft kaufte er eine Flasche Portwein, drückte sich in einen Hauseingang und leerte sie in einem Zug. Rauchte und ging sich den Film anschauen, für den er die Karte gekauft hatte; etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Er setzte sich in seinen Sessel, senkte den Blick auf die Lehne vor sich - und hatte das Gefühl, daß der ganze Kinosaal zu schlingern anfing. Und das lag nicht am Portwein.
Vor ihm prangte fett, mit Permanent-Marker geschrieben, ein Graffito: SAN-34. Was dieses SAN bedeutete, wußte Stepan nicht - irgendeine Lehrlingsklasse vielleicht. Was 34 bedeutete, wußte er um so besser. Stepan zeichnete die Inschrift mit dem Finger nach. Das Kunstleder der Stuhlbespannung war rauh und kühl. Er zwinkerte ein paarmal, um sicherzugehen, daß seine Augen ihn nicht trogen. Dann brach ein Schrei aus ihm hervor, der den Saal erzittern ließ. Vor Unannehmlichkeiten mit dem Personal rettete ihn die einsetzende Verdunkelung. Die Vorstellung begann.
Nach diesem Vorfall wußte er, daß der Pakt, von dem er schon als Kind geträumt hatte, besiegelt war. Eine angenehme Überraschung gab es außerdem: Die Zahlen 17 und 68 erwiesen sich als natürliche Verbündete der 34. Stepan hatte ihnen diese Rolle nicht zugewiesen, sie ergab sich von selbst. Plötzlich ging ihm auf, daß die beiden im Dienste der 34 standen - als Vorboten sozusagen. Nicht die Sonne selbst, aber die Verheißung von Licht, aufglänzende Risse in der Wolkenfront.

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