Viktor Pelewin: "Buddhas kleiner Finger"


Russlands Nirvana

Ein Avantgardist und Bohemien im Jahre 1919 flieht vor der Geheimpolizei von Petersburg nach Moskau. Dort erwürgt er in einem Handgemenge einen ehemaligen Schulfreund, nimmt dessen Identität an und landet in einem schrägen Etablissement, das sich Literatencafé nennt.
Pjotr Pustota, so heißt der Held der Geschichte, wird daraufhin von dem legendären Divisionskommandanten der Roten Armee, Wassili Tschapajew, zum Politkommissar ernannt. Tschapajew spielt in der russischen Folklore die allgegenwärtige Rolle eines Nasreddin Hodscha. Ähnlich, wie unser Till Eulenspiegel stellt dieser alles auf den Kopf - oder doch auf die Füße?
Tschapajew und Pustota ziehen für die Revolution in den Bürgerkrieg. Die Roten gegen die Weißen, die Bolschewiken gegen die Zarentreuen.

An dieser Stelle erwacht er in der Nervenklinik des Professor Kanaschnikow im heutigen Russland, um erneut inmitten der Revolution aufzuwachen und den eben geträumten Traum von der Nervenklinik mit Tschapajew zu diskutieren.

Zwischen zwei Realitäten wird der Leser in einem ständigen Verwirrspiel über Traum und Wirklichkeit hin- und hergeworfen. In diesem Rahmen versucht Pjotr, die Realität zu ergründen, die Wirklichkeit relativiert sich immer mehr zu einem bedeutungslosen Punkt im Weltall, dem kleinen Finger Buddhas, der das Nichts sichtbar macht, die Welt ins Nirvana schickt. Die Zeit wird bedeutungslos im Traum, deshalb sind auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein endloses Pendeln und konzentrieren sich im Jetzt.

Die philosophischen Dispute mit Tschapajew und Professor Kanaschnikow erinnern an Dostojewskis großen Erzählstil in "Schuld und Sühne". Tatsächlich beginnt ja dort die Geschichte ebenfalls mit einem Mord, und der Leser wird in die Wahnvorstellungen des Helden hineingezogen.

Bei Viktor Pelewin geht es aber nicht um ein Einzelschicksal, sondern um die Geschichte Russlands; die heutige Situation ist eingearbeitet und mit dem Schicksal des Helden eng verflochten. Pelewins amüsantes Verwirrspiel schwingt im Tonfall einer bissigen Satire, um den noch im beruhigenden Schaukeln verfangenen Leser gleich darauf mit fernöstlicher Mystik in den Abgrund der Seinsfrage hinabzustürzen.

Die Leichtigkeit seiner humoristischen Passagen wie auch die schwindelnden Höhen seiner Phantasmagorien über das Sein und die Zeit stellen den Autor Viktor Pelewin in eine Reihe mit den großen russischen Erzählern der Vergangenheit.

(Mag. Helga Hiebl)


Viktor Pelewin: "Buddhas kleiner Finger"
(Originaltitel "Chapaev i Pustota")
Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Luchterhand Literaturverlag, 2009. ca. 400 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Das fünfte Imperium. Ein Vampirroman"

Der neunzehnjährige Roma Schtorkin ist ein typischer Jugendlicher seiner Zeit: Seine Kindheit hat er noch in der Sowjetunion verbracht, an die er sich nur noch bruchstückhaft erinnern kann, jetzt, als Jugendlicher, lebt er in einem Russland der unendlich vielen Möglichkeiten, die alle nicht für ihn zu gelten scheinen.
Umso begieriger meldet er sich auf eine Anzeige, die Zugang zur Elite verspricht. Und plötzlich wacht er in der Gesellschaft von Vampiren auf, die ein neues - das fünfte - Imperium errichten wollen. Mit Roma an der Spitze ... (Sammlung Luchterhand) Zur Rezension ...
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