Leonardo Padura: "Ein perfektes Leben"

Das Havanna-Quartett: "Winter"


"Ein perfektes Leben", der erste Roman des Havanna-Quartetts, spielt im Winter auf der Insel Kuba, wo wir den sehr verkaterten Teniente Mario Conde kennen lernen, der von seinem Chef an seinem freien Tag zur Arbeit beordert wird, weil ein prominenter Industrieller verschwunden ist, den der Teniente noch aus seiner eigenen Schulzeit kennt. Und so beginnt für El Conde eine Reise in seine eigene Vergangenheit und die Betrachtung eines Lebens als Schüler eines kubanischen Elite-Gymnasiums, Einsichten, welche Hoffnungen und Träume damit verbunden sind, und die Auseinandersetzung mit dem Weg, den diese Träume im postrevolutionären Kuba bis Silvester des Jahres 1989 genommen haben.

Am Morgen des Ersten nämlich wird er unsanft von seinem Chef geweckt, um sich auf die Suche nach Rafael Morín Rodríguez zu machen, der als ehemaliger Schülersprecher seines Gymnasiums die Traumfrau aller Jungen dieser Zeit geheiratet hatte und sich nach und nach zu einem hohen Tier in der kubanischen Nomenklatura hinaufgearbeitet hat. Er wohnt in einem wunderschönen Haus mit seiner immer noch wunderschönen und intelligenten Frau, hat einen wunderbaren Job, der ihn regelmäßig aus Kuba in die Welt hinaus bringt und ist allgemein sehr angesehen. Auf der Suche nach möglichen negativen Aspekten seiner Person stößt El Conde an jedem Punkt auf einen liebenswerten, großzügigen und geachteten erfolgreichen Mann, der in seiner ganzen Art ohne jeden Makel zu sein scheint - so ganz anders als es bei El Conde und seinen Freunden ist. Zunächst begegnet der Teniente diesem perfekten Menschen und dessen perfektem Leben mit großem Misstrauen, das offensichtlich auf Neid beruht, bis er sich schließlich mit der perfekten Realität des Rafael Morín zu arrangieren beginnt. Und mit dessen Frau Tamara, die auch nichts Negatives über ihren verschwundenen Mann zu sagen weiß.

Die Geschichte stellt nicht nur die sehr interessanten Figuren dieses Quartetts vor, sondern sie gibt den Lesern in ihrer Sprache und ihrer Erzählweise einen Einblick in das Leben auf Kuba, wie es sich einer der Stützen dieses Lebens darstellt; einem Mann, der viele gute Qualitäten mit einigen lässlichen Sünden verbindet  und einfach Sympathien wecken muss, selbst wenn man seinem Denken nicht in allem zustimmen mag. Und hier zeigt sich die tiefere Qualität dieses Romans, der die negativen Seiten Kubas zeigt, durch die Augen von jemandem, der diese als Teil seines normalen Lebens begreift und dadurch besseres Verständnis und größere Gerechtigkeit in die Kritik einbringt, als es eine einfache Satire jemals erreichen könnte.

Ein kurzes Interview mit Leonardo Padura, in dem der professionelle Weg und die Grundhaltungen des Schriftstellers teilweise dargelegt sind, beschließt "Ein perfektes Leben", wodurch auch einige Aspekte der gerade gelesenen Geschichte noch einmal neu deutbar werden.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 03/2005)


Leonardo Padura: "Ein perfektes Leben"
(Originaltitel "Pasado perfecto")
Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein.
Unionsverlag, 2003. 286 Seiten.
ISBN 3-293-00315-X.
ca. EUR 19,50. Buch bei Libri.de bestellen
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Leseprobe:

Er sah Tamara vor sich, wie sie Anzeige erstattete, und schaute sich wieder das Foto des Vermissten an. Es war wie ein Köder, der ferne Erinnerungen aufwühlte, Tage, die er vergessen wollte, nostalgische Gräber. Das Foto glänzte, es war wohl erst vor kurzem aufgenommen worden. Doch auch wenn der Mann auf dem Foto zwanzig Jahre alt gewesen wäre, wäre er heute immer noch dieselbe Person. Sicher? Sicher. Er schien immun gegen die Wechselfälle des Lebens, liebenswürdig auch auf Passbildern, frei von Schweiß, Akne und Fett, von der dunklen Bedrohung des Bartwuchses, ausgestattet mit dem gewissen Etwas eines makellosen, vollkommenen Engels.
   Zurzeit allerdings galt er als vermisst, ein alltäglicher Fall für die Polizei, eine Arbeit für Mario Conde, die dieser lieber nicht hätte erledigen wollen. Was war da los, verdammt noch mal?, fragte er sich beim Verlassen des Büros. Er verspürte keinerlei Verlangen, den Bericht mit den persönlichen und beruflichen Daten des untadeligen Rafael Morín Rodríguez durchzulesen.
   Vom Fenster seines eigenen kleinen Büros konnte er einen Ausblick genießen, der ihm wie ein impressionistisches Gemälde vorkam: die von uralten Lorbeerbäumen gesäumte Straße, diffuse grüne Flecken im Sonnenlicht, die im Stande waren, das Brennen in seinen Augen zu lindern; eine bedeutungslose kleine Welt, deren Geheimnisse er allesamt kannte und an der ihm jede Veränderung auffiel: ein neues Spatzennest, ein absterbender Ast, die Erneuerung des Laubes, die durch die dunkle Färbung der immergrünen Blätter angekündigt wurde. Hinter den Bäumen eine Kirche mit hohen Gittern und glatten Außenmauern sowie einige nur undeutlich zu erkennende Gebäude. Und schließlich, ganz hinten, das Meer, das man nur als Lichtfleck und als Geruch wahrnehmen konnte.
   Die Straße war leer und warm und sein Kopf so gut wie leer und ein wenig benebelt. Wie gerne, dachte er, säße er unter diesen Lorbeerbäumen und wäre noch einmal sechzehn Jahre alt, einen Hund an seiner Seite, den er streicheln, und eine Freundin, auf die er warten könnte. Dann, einfach so dasitzend, wäre er rundum glücklich, jede Wette, so glücklich, wie man nur sein kann, was er schon beinahe vergessen hatte. Und vielleicht würde es ihm sogar gelingen, seine Vergangenheit, die ja seine Zukunft wäre, in Ordnung zu bringen und sich auszumalen, wie sein Leben verlaufen werde.
   Der Gedanke faszinierte ihn, denn dann würde er versuchen, es anders zu gestalten. Jene lange Kette von Irrtümern und Zufällen, die seine Existenz bestimmt hatte, würde sich nicht wiederholen; es müsste eine Möglichkeit geben, sie zu unterbrechen oder wenigstens zu korrigieren und einen anderen Weg, das heißt, ein anderes Leben auszuprobieren. Sein Magen hatte sich inzwischen so einigermaßen beruhigt. Er wünschte sich, den Kopf freizuhaben, um sich in diesen Fall zu stürzen, der ihn in die Vergangenheit führte und ihn aus der friedlichen Willenlosigkeit riss, die er sich fürs Wochenende erträumt hatte.
   Er drückte die rote Taste der Gegensprechanlage und verlangte, man solle Sargento Palacios zu ihm schicken. Vielleicht, so dachte er, konnte er von Manolo lernen. Zum Glück gab es Leute wie ihn, so dachte er weiter, denen es gelang, die tägliche Arbeitsroutine durch ihre bloße Anwesenheit und ihren Optimismus aufzulockern. Manolo war ein guter Freund, erwiesenermaßen verschwiegen und fleißig, aber ohne Hektik. Mario Conde zog ihn allen anderen Sargentos und den übrigen Ermittlern der Kripo vor.
   Er sah den größer werdenden Schatten hinter der Glasscheibe, und dann trat Sargento Manuel Palacios ohne anzuklopfen ein.
   "Ich dachte, du wärst noch nicht da", sagte Manolo und setzte sich in einen der Sessel vor Condes Schreibtisch. "Was für ein Leben, Bruder. Scheiße, du hast heute aber dein verschlafenes Gesicht aufgesetzt!"
   "Du kannst dir nicht vorstellen, wie hackevoll ich gestern war. Furchtbar!" Beim bloßen Gedanken daran zog sich Mario der Magen zusammen. "Die alte Josefina hatte Geburtstag, wir haben mit Bier angefangen, ich hatte welches besorgt, danach gab's zum Essen Rotwein, so 'n scheiß-rumänischen, kam aber gut, und hinterher hat der Dünne 'ne Flasche Añejo geköpft, die er eigentlich seiner Mutter geschenkt hatte. Als der Alte mich heute Morgen anrief, wär' ich fast gestorben."
   "Maruchi sagt, der Alte ist sauer auf dich gewesen, weil du einfach aufgelegt hast." Manolo grinste und rutschte tiefer in den Sessel zurück. Er war gerade mal fünfundzwanzig und hatte Probleme mit der Wirbelsäule. Keine Sitzgelegenheit war für seinen knochigen Hintern geeignet, und er konnte nicht lange stehen, ohne ein paar Schritte zu gehen. Mit seinen langen Armen und dem hageren Körper bewegte er sich wie ein wirbelloses Tier. Von den Leuten, die der Teniente kannte, war er der Einzige, der sich in den Ellbogen beißen und über die Nase lecken konnte. Sein Gang war wie ein Schweben, und wenn man ihn so sah, hielt man ihn für schwächlich, sogar zerbrechlich, und bestimmt für jünger, als er war.
   "Der Alte ist nervös", sagte der Teniente, "er kriegt nämlich auch Anrufe, von oben."
   "Wohl ein schwieriger Fall, was? Mich hat er auch angerufen, höchstpersönlich."
   "Nicht nur schwierig, sondern vor allem heikel. Hier, nimm das mit", sagte Mario Conde und ordnete die Aktenblätter, "lies das durch, in einer halben Stunde fahren wir los. Ich muss noch darüber nachdenken, wie wir's am besten anpacken."
   "Du kannst schon wieder denken?", fragte der Sargento und verließ mit seinem federnd leichten Gang das Büro.
   El Conde blickte auf die Straße hinunter und lächelte. Ja, er konnte schon wieder denken, und er dachte, dass der Fall eine Bombe war.

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