Bragi Ólafsson: "Die Haustiere"


"Es sind gerade mal zwei oder drei Minuten vergangen, seit Hinrik und seine Kumpane sich aus dem Staub gemacht haben, als es schon wieder an der Tür klopft. Das muss ich sein, sage ich zu mir. Es fällt mir sonst niemand mehr ein, der auf dem Weg hierher sein könnte." (Auszug aus "Die Haustiere")

Eine Humoreske - seicht, tiefgründig, existenziell


Schon der Titel ist mehrdeutig, denn in dem Roman geht es nicht nur um reale Haustiere, sondern auch um "Haustiere" als Metapher für ungebetene Besucher. Der Roman, auf der Handlungsebene leicht verständlich und humorvoll geschrieben, steckt voller Symboliken und Andeutungen.

Emil Halldórsson, wohnhaft in Reykjavík, kommt von einem zweiwöchigen Einkaufstrip aus London zurück nach Hause. Seine Einkäufe umfassen einige Tragetaschen voll mit CDs, Büchern, Spirituosen und Tabakwaren. Sein Nachbar begrüßt ihn und warnt ihn vor einem fremden Mann, einem finsteren Burschen, der ihn zwischenzeitlich aufgesucht hat und allem Anschein nach wiederkommen wird. Hat der seltsame Besucher etwas mit Emils Lottogewinn zu tun?

Emil ist froh, wieder daheim zu sein. Für den Abend hat er sich mit Gréta verabredet, die er auf dem Rückflug von London nach Reykjavík kennen gelernt hat und die ihm bereits früher aufgefallen war. Plötzlich überkommt ihn eine melancholische Stimmung ("Mich befällt das eigenartige Gefühl, dass es überhaupt nicht selbstverständlich ist, dass dies mein Zuhause ist, dass diese Wohnung ebenso gut die Wohnung eines anderen sein könnte."). Das zentrale Thema des Romans deutet sich an: Wie selbstbestimmt leben wir?

Der unheimliche Besucher ist Hávardur Knútsson, ein früherer Bekannter von Emil, mit dem er in London schlechte Erfahrungen gemacht hat. Der kriminell-psychopathisch veranlagte Hávardur verbrachte die letzten Jahre in einer schwedischen Anstalt. Als er Emils Wohnung erneut aufsucht, ist dieser zwar zu Hause, gibt sich aber nicht zu erkennen. Hávardur erblickt durch das offene Küchenfenster einen kochenden Wasserkessel und steigt in die Wohnung ein. Er nimmt den Topf vom Herd und macht es sich in Emils Wohnung gemütlich. Dieser könne ja nicht weit weg sein.

Emil, der Hávardur auf keinen Fall treffen will, versteckt sich im Schlafzimmer unter seinem Bett. Eine Begegnung mit ihm findet nicht statt. Stattdessen benimmt sich Hávardur wie Emils Generalbevollmächtigter. Er liest seine Mails, benutzt seine Musikanlage, beantwortet Telefonanrufe und begutachtet Emils Einkäufe. Nach und nach treffen Freunde und Bekannte von Emil ein, die alle von Hávardur unter Hinweis auf Emils baldige Rückkehr empfangen werden. Hávardur und die weiteren Gäste, unter anderem Gréta, seine neue Bekanntschaft, machen es sich in Emils Wohnung gemütlich. Delikat wird die Situation, als sich auch noch Vigdís, Emils bisherige Freundin telefonisch meldet. Das Leben geht weiter - auch ohne Emil. Dieser wird zum Beobachter seines privaten Umfeldes, ohne selbst eingreifen zu wollen oder zu können.

In einer Rückblende wird die Beziehung zwischen Emil und Hávardur beleuchtet. Gemeinsam hatten sie vor fünf Jahren gegen Bezahlung für mehrere Wochen auf das Haus eines Freundes aufgepasst und dessen Haustiere gepflegt. Drei der vier Tiere, der Hamster "Moby", das Kaninchen "Dick" und der Leguan "Ahab", fielen Hávardurs törichtem Verhalten zum Opfer. Auch sonst ließ sein Benehmen in der fremden Wohnung zu wünschen übrig. Er wurde mit einem Teil des Tagegeldes abgefunden und musste gehen.

Die Namen (und das Schicksal) der Tiere sind sicherlich kein Zufall. Ebenso wenig dürfte es ein Zufall sein, dass Hávardur als Ersatz für das entgangene Tagegeld die Erstausgabe des Buches "Moby Dick" sowie ein wertvolles Modell des Walfangschiffes "Essex", das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem gigantischen Wal versenkt wurde (Vorbild für Melvilles "Moby Dick"), aus der Wohnung entwendet.

Die Verbindungen zu "Moby Dick" und dem Walfangschiff ziehen sich durch den gesamten Roman. Wenngleich atmosphärische Parallelen erkennbar sind (die Situation in Emils Wohnung ist unwirklich, wie die Situation auf dem legendären Walfangschiff von Kapitän Ahab), ist nicht bei allen Anspielungen klar, wie sie denn gemeint sein könnten. Nichtsdestotrotz hat Bragi Ólafsson das Thema "Identitätsverlust" ideenreich aufgearbeitet.

"Die Haustiere" ist ein Buch, das nicht alltäglich ist, neugierig macht und gleichzeitig humorvoll und tiefsinnig verstanden werden kann. Wie endet diese seltsame Geschichte? Wie könnte sie enden? Die Andeutungen auf den letzten Seiten lassen viele Fragen offen und damit Spielraum für unterschiedliche Interpretationen. Ein "einfaches" Ende zu Gunsten des Humors und zu Lasten des Tiefsinns wäre möglich gewesen. Vielleicht hat der Autor deshalb darauf verzichtet.

Bragi Ólafsson, am 11. August 1962 in Reykjavík geboren, ist ehemaliger Bassist und Mitbegründer der Band "The Sugarcubes", mit der die Sängerin Björk international bekannt wurde. 1999 erschien sein erster Roman "Hvíldardagar" ("Ruhetag"), außerdem veröffentlichte er Lyrik, Hörspiele und Erzählungen. Der vorliegende zweite Roman war sowohl für den isländischen Literaturpreis als auch für den Kulturpreis der isländischen Tageszeitung DV nominiert. Heute lebt Ólafsson mit seiner Familie in Reykjavík und arbeitet in einer Werbeagentur.

(Klemens Taplan; 05/2005)


Bragi Ólafsson: "Die Haustiere"
(Originaltitel "Gæludýrin")
Übersetzt von Tina Flecken.
dtv, 2005. 278 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Der Botschafter"

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Ein unterhaltsamer und vielschichtiger Roman darüber, dass nichts unmöglich ist, solange man gute Einfälle hat, und dass manchmal kriminelle Energie hilft, um das Schicksal zu beeinflussen. (S. Fischer)
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