"Natur im Herzen Mitteleuropas"

"Der heutige Lebensstandard ist mehr auf die Technik als auf die Natur gerichtet. Wir haben verlernt, intuitiv die Natur zu begreifen, wir müssen wieder lernen mit ihr umzugehen, wollen wir den schmerzlichen Erfahrungen der Gegenwart entgegentreten, wie Muren als Folge von Entwaldungen und Bodendegradationen, Fischsterben als Folge giftiger Abwässer, Baumschäden als Folge von Schadgasimmissionen."

(Univ.-Prof. Dr. Rudolf Maier; Universität Wien)


Umweltschutz ist Verstandessache.

Seit nun schon geraumer Zeit dürften sich die Bewohner mitteleuropäischer Siedlungsräume mit der ständigen Gegenwart ökologischer Krisenbegriffe abgefunden haben. Man meint zumindest diesen Eindruck zu gewinnen, wenn Schlagworte wie "Waldsterben" oder "Artensterben", die vor wenigen Jahren noch den Anstand zeitgemäßer Lebensstile fraglich erscheinen ließen, heutzutage aus dem Vokabular allgemeiner Zeitbetrachtungen nachhaltig ausgeblendet und kaum noch mit einem flüchtigen Achselzucken quittiert werden. Was einst noch aufregte, als es noch ungewohnt in den Ohren klang, rührt heute niemanden mehr. Umweltschutz langweilt in Zeiten der Spaßkultur, wo das stets ungestillte Verlangen nach Erlebnissen mit Lustgewinn jeglicher Ernsthaftigkeit abhold ist. Der kürzlich noch so populäre Umweltschutzgedanke scheint in diesen schnelllebigen Zeiten längst schon wieder antiquiert zu sein und äußert sich in Österreich gerade noch einmal als grenzüberschreitende Aversion gegen ein nahe gelegenes tschechisches Atomkraftwerk, wobei sich vorgebliche ökologische Anliegen leichthin mit völkischen Ressentiments und historischem Revanchismus verbinden lassen. Sorge um die Umwelt äußert sich gerade noch als launische Quengelei, oftmals im Windschatten massenmedialer Raserei, doch kaum einmal als gelebte Verantwortungsethik, der es immer auch darum geht zu begreifen, was des Begriffes Gegenstand ist. Denn nur was der Verstand begreift, liebt auch das Herz.

Veranschaulichung von Naturzusammenhängen als Methode der Hinführung zu Natur.

Der vorliegende Sammelband von Textbeiträgen eines Kollektivs von zur sachkompetenten Darlegung ökologischer Sachverhalte befugten Autoren ist nun wahrlich geeignet, dem willigen Leser begreiflich zu machen, was sich hinter dem oft doch so inhaltsleeren Naturbegriff an bunter Lebendigkeit verbirgt. Natur? Ja, das ist vor allem auch einmal Naturgeschichte, sprich: Drei Milliarden Jahre irdisches Leben. Denn alles Dasein ist gewordenes Dasein, hat eine Entwicklungsgeschichte, die sich überblickend liest als eine Lebensgeschichte des Planeten Erde, wobei zu aller erst auch geologische Aspekte zu beachten sind. Und was bedeutet in ökologischen Zusammenhängen die Betrachtung von Leben? Nun, Leben bedeutet immer auch Vergänglichkeit, also auch ausgestorbenes oder gewordenes Leben, welches früher einmal war und längst nicht mehr ist oder nicht mehr so ist wie es einmal war. Der Höhlenbär - übrigens wie der Panda-Bär höchstwahrscheinlich ein Vegetarier (!) - und seine Eiszeitfauna sind nicht mehr, doch sind sie Ahnen unserer Gegenwartsfauna und mit dieser entwicklungsgeschichtlich verbunden.

Das Beispiel Niederösterreich.

All diese Begrifflichkeiten von Entwicklungs- und Lebensgeschichte, und vieles mehr, werden im vorliegenden Buche am Beispiel des österreichischen Bundeslandes Niederösterreich ausgeführt, welches infolge seiner vielfältigen Landschaftsstrukturen in faunistischer wie floristischer Hinsicht eben eine bemerkenswerte Artenvielfalt aufweist und insgesamt - bei aller auch hier erfolgten Zerstörung von Lebensräumen - dem Betrachter immer noch ein recht anregendes umweltökologisches Bild bietet. Primär eignet sich dieser reichlich illustrierte Band somit vorzüglich dazu, dem interessierten Laien einen ersten tiefen Einblick in ökologische Zusammenhänge zu gewähren, was ganz nebenbei dem edlen Zwecke ökologischer Gewissensbildung dienlich ist.

Die ökologische Krise ist noch nicht ausgestanden.

Die Aufgeregtheit und Bedrücktheit früherer Jahre von wegen Waldsterben und Klimakatastrophe sind in diesen Tagen einer weit verbreiteten Stimmung dumpfer Gleichgültigkeit gewichen. In all der Unberührtheit blitzt hie und da noch ein breit grinsender Zynismus auf: "Wir haben diese Welt von unseren Kindern nur geborgt. Na und! Geborgt ist geborgt. Wer gibt Geborgtes schon zurück?"

Ist das Bewusstsein von der Krise erst einmal aus den Köpfen gewichen, scheint auch die Krise an sich schon bewältigt zu sein. Ganz nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn. - Wurde vielleicht alles nur von irgendwelchen Öko-Hysterikern herbeigeredet? Ist die ökologische Krise eine bloße Chimäre? Eine hinterfotzige Panikmache ökologischer Apokalyptiker, die im tiefsten Frieden mit Umweltkriegen rechnen und in einer relativ intakten Umwelt ohne Unterlass den zivilisatorischen Sündenfall zu entdecken meinen? Ganz im Gegenteil! Nicht dramatisierende Weltuntergangspropheten sondern Verharmloser und Entwarner hatten zuletzt Konjunktur, da trotz prognostizierter Katastrophen die Forste immer noch grün und die Wildbestände immer noch hoch sind. War also all die Aufregung nur ein schlechter Scherz?
Nein! Mitnichten! Die ökologische Krise ist real und noch lange nicht ausgestanden. Sie lässt sich eben nicht einfach nur sinnlich ermessen, sondern bedarf des intellektuellen Begreifens, denn das langsame Absterben geschieht im Verborgenen, verhält sich undramatisch und still, wie auch der Anblick des Hässlichen - der Anblick von verstümmelter Naturschönheit - dem Gegenwartsmenschen längst schon zur optischen Gewohnheit geworden ist und in ihm keine zur Selbstbesinnung geleitende Erschütterung mehr auslöst. Folglich tut ökologische Bewusstseinsbildung dringend Not, um bei möglichst vielen Menschen eine Bereitschaft zum ökologischen Engagement heranzubilden. Ein Engagement für den Umweltschutz, dessen Dringlichkeit selbst noch dem dumpfsten Gemüt dämmern muss, sobald es sich auf den Inhalt des gegenständlichen Buches mit hinreichender Ernsthaftigkeit einlässt, welches zwar keineswegs einer aufpeitschenden Krisenstimmung Vorschub leistet, vielmehr so manchen kritischen Aspekt in unaufgeregter Manier sachlich darlegt, nicht kreischt, doch sehr wohl zu beanstanden weiß, das Dieses und Jenes keineswegs zum gern propagierten Bild einer intakten Umwelt passe.
Denn obgleich Niederösterreich im Vergleich zu einer Mehrzahl mitteleuropäischer Ländereien noch tatsächlich über eine relativ intakte Naturlandschaft verfügt, so ist das Schrillen der Alarmglocken auch hierzulande nicht mehr zu überhören. Und die Bestandsaufnahme faunistischer und floristischer Sphären muss einfach traurig stimmen, denn beispielsweise: der Wolf ist ausgerottet und bleibt wohl auch ausgerottet. Überhaupt solange die Jägerschaft sich weiterhin außerstande zeigt mit waidmännischer Sorgfalt zwischen streng geschützten Wölfen und - warum auch immer - wildernden Hunden zu unterscheiden, solange muss Österreich für Wölfe jene unerbittliche Todeszone bleiben, die es ganz nüchtern betrachtet für Wölfe eben ist. Dem Schakal dürfte der versuchte Vorstoß nach Österreich nun wohl endgültig misslungen sein, und auch die Wildkatze ist aus den heimischen Landen völlig verschwunden. Die Co-Autorin Friederike Spitzenberger beklagt in ihrem Beitrag "Die Säugetiere Niederösterreichs" zu Recht, dass für viele bedrohte Tierarten in diesem Bundesland nicht einmal der rechtlich vorgeschriebene Schutz besteht. So wurden bis heute weder Winter- noch Sommerquartiere für die sieben Fledermausarten des Anhangs II der Fauna-Flora-Habitatrichtlinie in genügender Anzahl ausgewiesen. Auch für das Vorkommensgebiet des Luchses im Waldviertel ist bis dato kein Natura 2000-Gebiet ausgewiesen worden. 1965 erreichte die niederösterreichische Feldhasenstrecke, die um 1890 noch 320.000 betragen hatte, mit 156.000 erlegten Tieren einen ersten Tiefstand und fiel Anfang der 1990er-Jahre auf knapp mehr als 60.000 Schussopfer pro Jahr ab. In einigen niederösterreichischen Revieren wurde daraufhin die Jagd auf Hasen zumindest für einige Jahre überhaupt eingestellt. Was den im ganzen Land verbreiteten Rotfuchs betrifft, gelang es zwar den niederösterreichischen Bestand durch Immunisierung der Tiere mittels Schluckimpfung tollwutfrei und stabil zu bekommen, doch leiden die Tiere unter einem gnadenlosen Jagddruck, da dem Fuchs böswilliger Weise immer noch der Ruf eines Schädlings anhaftet. Kaum ein Tier erreicht deswegen seine von der Natur vorgesehene Lebenserwartung.

Die Krebspest gefährdet den Bestand heimischer Krebsarten.

Schlimm, oder besser gesagt: dramatisch! steht es um die heimischen Krebsarten, seitdem die von amerikanischen Krebsarten übertragene so genannte Krebspest (eine Pilzerkrankung) in Seuchengewässern zu hohen Infektionsraten und zu einer nahezu hundertprozentigen Mortalität führt, was in der Tiermedizin eine epidemiologische Einzigartigkeit darstellt. Die Folge dieser - letztlich immer vom Menschen verursachten - Krebspest ist das langsame und endgültige Aussterben heimischer Flusskrebsarten (Edelkrebs, Steinkrebs, Dohlenkrebs) und die Nachbesiedelung der entkrebsten Habitate durch eingeschleppte nordamerikanische - gegen die Krebspest immune - Krebsarten wie den Signalkrebs, den Kamberkrebs oder durch den roten amerikanischen Sumpfkrebs. Die meisten dieser Faunenfremdlinge geraten hier zu Lande über den Aquarienhandel als "Teichhummer" in die freie Wildbahn und mit ihnen eben auch die mörderische Krebspest, deren Überträger die unerwünschten "Flusskrebs-Einwanderer" aus Amerika sind. Wie man sieht erliegen also nicht nur unsere Sprache, unsere Sitten, Gebräuche und öffentlichen Ordnungsstrukturen dem dominanten und global hegemonialen amerikanischen Naturell. Auch die Natur Europas wird sukzessive durch amerikanische Zudringlinge verfremdet, also von Lebensformen, welche über Handelslinien in alle Welt verbreitet werden und solcherart, ob ihrer oft überlegenen Beständigkeit, Faunen und Floren gewissermaßen amerikanisieren. Und mögen es nur todbringende Krebse sein, welche mit Erfolg unsere Gewässer okkupieren.

Kümmerliche Urwaldreste und kritisch belastete Fließgewässer.

So verarmt auch immer der Tierbestand ist, nicht besser ist es um die Naturwaldreservate und um die Fließgewässer bestellt. Letztere sind laut der Gewässergütekarte des Landes Niederösterreich für das Jahr 1999 teils "kritisch belastet" (Thaya) oder gar stark verschmutzt (Pulkau). Und was die Naturwaldreservate betrifft, so beherbergt Niederösterreich mit dem knapp 300 Hektar großen Rothwald zwar den größten und schönsten Urwaldrest Mitteleuropas, doch sollte dieses einsame Juwel nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass der überwiegende Waldbestand nicht aus bizarren Urwäldern sondern aus Wirtschaftswäldern, also aus armseligen Holzgewinnungsplantagen besteht, die nicht nur wegen standardisierter Wuchsformen der Bäume unansehnlich sind, sondern eine ebenso langweilige Strukturierung aufweisen und kaum noch einen adäquaten Lebensraum für Tiergesellschaften bieten. Nur noch seltene Urwaldreste können den Naturästheten heute erfreuen, und wenn auch Niederösterreich nach wie vor die bedeutendsten Bestände in Österreich aufweist, so handelt es sich lediglich um örtlich isolierte Reste einer einst urweltlichen Lebenskraft, deren urwüchsige Schönheit längst verflossene Geschichte ist. Auf die Frage: Wie sieht ein Urwald aus? - kann heutzutage wohl kaum jemand aus eigener Erfahrung eine fundierte Antwort geben. Und in einem Land, in dem beinahe niemand mehr einen erlebten Begriff des archetypischen Naturschönen hat, wird das Fehlen von Naturschönheit wohl auch kaum jemandem auffallen. Zur ökologischen Verwüstung verhält sich die ästhetische Verwüstung analog.

Bedrängte Lebensformen - verarmte Lebensräume.

Es sollte jetzt nicht der Eindruck hinterlassen werden, es handle sich gegenständlich um Widerstandsliteratur. Keineswegs ist dem so. Bei den Autoren handelt es sich nämlich nicht etwa um streitbare Umweltaktivisten, sondern überwiegend um honorige Gelehrte aus dem Universitätsbereich und aus der Zoologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien. Ohne sich dabei in einen unverständlichen Fachjargon zu versteigen thematisieren sie u. a. Klimagebiete, Vegetation und Flora, Auwälder, Moore, Flechten, die Pilzflora, also jenes eigenständige Organismenreich der Pilze (der Pilz ist keine Pflanze!), Insekten, Gewässer, Uferbolde und Wassergeister, Weichtiere, Flusskrebse, Fischfauna, Lurche, Kriechtiere, die Vogelwelt, die Welt der Säugetiere und zum Ausklang ein umweltökologisches Bild. Ihr Befund zu diesen Themenkreisen ist ein sachlicher, stiller, und nur manchmal klingt Bitterkeit, ja sogar Protest durch. Und doch, der pure Befund des umweltökologischen Ist-Zustands ist bereits erschütternd genug und vermittelt dem sinnenwachen Zeitgenossen das untrügliche Bild einer ernstlich bedrohten Umwelt. Die Redensart von der ökologischen Krise ist eine beschreibbare Wirklichkeit, die keines schrillen Alarmgeschreis mehr bedarf. Tatsächlich! Die Tier- und Pflanzenwelt befindet sich in arger Bedrängnis und in der scheinbar heilen Welt keimt das Unheil.

Öko-ästhetischer Lokalpatriotismus.

Auch Niederösterreich ist, was den angegriffenen Zustand seiner Natur betrifft, keine Insel der Seligen und Handlungsbedarf, wie etwa eine umfassende Aufklärung der Bevölkerung über notwendige Schutzmaßnahmen und über erforderliche Verhaltenskorrekturen, ist allerorts gegeben. Mit etwas gutem Willen, mit ein wenig menschlicher Selbstbescheidung ließe sich vieles noch retten und so manches wieder herstellen, was im Übermut anthropozentrischer Selbstgenügsamkeit einst mutwillig zerstört wurde. Und die Schönheit der Natur wird wohl am ehesten jener zu schätzen wissen, der ihr Wesen und das besondere Wesen ihrer Geschöpfe zu verstehen gelernt hat. Dieses Naturverständnis gleichermaßen anschaulich wie fundiert zu vermitteln ist die hervorstechende Gabe dieses Buches, und der konkretisierte Heimatbezug sollte den Leser daran erinnern, was Heimat denn wirklich bedeutet. Wer seine Heimat wirklich liebt, wird den Begriff davon nicht in Konkurrenz zu anderen Heimatbegriffen setzen, sondern vielmehr liebevoll dafür Obsorge tragen, dass sich Heimat in all ihren natürlichen und kulturellen Ausdrucksformen realisieren kann und Naturlandschaft mit Kulturlandschaft im Einklang steht. Ein ins Positive gewendeter lokaler Patriotismus könnte Antrieb für eine ebenso ökologisch wie ästhetisch orientierte Reorganisation von Kulturflächen und - dem Wirtschaftsfetisch geopferten - Wassertransportwegen sein, womit der optischen und der ökologischen Umweltverödung gleichermaßen entgegengewirkt wäre.

Liebe zum Leben - Liebe zum Naturschönen.

Sollte es dem Menschen beizeiten vielleicht doch noch gelingen, seine Entfremdung von der Natur zu überwinden, so gäbe es vielleicht auch für die akut bedrohten "Scherenritter" - die heimischen Flusskrebse - noch eine geringe Überlebenschance. Bis dahin muss jedoch weiterhin der deprimierende Befund gelten, dass nur der tote Mensch mit sich und der ihn umgebenden Natur im Einklang steht, hingegen der untote Mensch ein Fall für die Entfremdungstheorie ist. Bemühen wir uns deswegen doch darum, dass der Mensch die Natur wieder verstehen und solcherart das Naturschöne wieder schätzen lernt. Es gilt in dem lediglich noch mechanisch funktionierenden Maschinenmenschen der Moderne wieder die Liebe zum Leben zu erwecken. Das vom niederösterreichischen Landesmuseum für Natur, Kunst und Geschichte herausgegebene Buch "Natur im Herzen Mitteleuropas" stellt ob seiner Fülle ökologischer Gelehrtheit für diese - vielleicht ein wenig visionäre - Zielsetzung gewiss ein taugliches Hilfsmittel dar, da nur wer versteht auch liebt.

(Harald Schulz; 12/2002)


"Natur im Herzen Mitteleuropas"
NP Buchverlag, 2002. 255 Seiten.
ISBN 3-8521-4776-X.
ca. EUR 26,-.
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