Michael Günther (Hrsg.): "Mulla Nasruddin"

Lebensphilosophie vom weisen Narren


Vom Balkan bis weit hinein in den Mittleren Osten erfreuen sich seit langer Zeit die zahlreichen bedenklich-humorvollen Geschichten und Anekdoten des Mulla Nasruddin oder auch Nasruddin Hodscha genannt großer Beliebtheit. Da eine schriftliche Fixierung des mündlichen Erzählguts erst spät erfolgte, Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts durch den türkischen Schriftsteller Mehmet Tevfik, gibt es nur wenig historisch Gesichertes über den kultigen Mulla zu berichten, doch zweifelt kaum jemand daran, dass dieser im 13. Jahrhundert, die meiste Zeit davon in Akschehir in der heutigen Türkei, gelebt hat, als Geistlicher, Kadi, Händler und insbesondere stadtbekanntes, offenbar mit ziemlicher raumzeitlicher Ausstrahlung ausgestattetes Original.

Der "weise Narr" als Kurzbeschreibung des Hodscha im Untertitel der vorliegenden Sammlung trifft die Sache insofern, als die beiden Extreme des Weisen und des Törichten im Mulla eine außergewöhnlich innige Beziehung eingegangen sind. Das Törichte erweist sich manchmal als genuine Schattenseite der Weisheit, in den meisten Fällen ist es bloß ein scheinbares - hinter dem vordergründig Närrischen, Naiven, Skurrilen verbergen sich tiefere als die üblichen Wahrnehmungen und Einsichten, vor allem aber (und das ist in den meisten Fällen gleichzeitig ihr Entstehungsgrund) erlaubt so eine Maske des weisen Narren einen größeren Handlungsspielraum gegenüber der Dummheit der Normalität; weise kann schließlich auch genannt werden, der seine Narrenfreiheit klug zu nutzen weiß. Natürlich könnten manche Widersprüchlichkeiten des Mulla Nasruddin einfach darauf zurückzuführen sein, dass gewisse Geschichten von anderen Helden handeln und später dem Mulla zugeschrieben wurden - Michael Günther, der Herausgeber dieses Bändchens der Buchreihe "Quellen der Weisheit" widersteht jedenfalls vernünftigerweise der Verlockung, hinter dem Überlieferten so etwas wie eine reale Person, den echten Nasreddin ausfindig zu machen (auf den Spuren eines Narren zu wandeln, mag ja als Zeichen eines Genießers durchgehen, auf den Spuren eines hypothetischen Narren hingegen ...); anstatt sich in filologischer Finsternis zu verlieren, hebt er die gedankliche Essenz der Geschichten hervor. Er wählt aus zwei älteren Sammlungen 75 der schönsten, die wichtigsten Motive anschlagenden Hodscha-Geschichten aus, bearbeitet sie noch ein wenig sprachlich (kürzt oder ergänzt), 36 weitere Geschichten erzählt er nach überlieferten Motiven neu, und ordnet sie allesamt locker nach Hauptthemen (nämlich: "Die Lösungen des Narren", "Die Hintergründigkeit des Dummen", "Die Ratschläge des Weisen", "Die Rückschlüsse des Naiven", "Die Logik des Andersdenkenden", "Die Schlauheit des Hinterlistigen", "Die Erklärungen des Schuldbewussten", "Die Rache des Hereingelegten", "Der Spott des Intellektuellen", "Die Geistesblitze des Querdenkers", "Die Erkenntnisse des Neugierigen"). Elf Ordner, einhundertundelf Geschichten insgesamt, die Narren- und "Schnapszahl" (von vorn wie von hinten lesbar) Elf, wie sie nicht nur zu Faschingsbeginn auftaucht, sondern ebenso, gleichsam als das Maß der Normalität sprengend in der Hodscha-Geschichte, in welcher Nasruddin zu einem Festessen geladen wird und die überschwängliche Freude bei der Begrüßung die Hintergedanken der zehn bereits Anwesenden verrät ("der Narr ist da, der Abend ist gerettet"), woraufhin der ihnen lächelnd zu bedenken gibt, ob es nicht besser sei, für sich allein zehn Narren zu haben als sich einen einzigen zu zehnt teilen zu müssen.

Nasruddin Hodscha sieht vieles anders und manches mehr, dementsprechend verwirrend sein Wirken. Manches an seiner Logik ist leicht nachvollziehbar: so erscheint der Mulla einmal mehr in einer fremden Tischgesellschaft (wie man sieht, liebte er gutes Essen und Trinken und soll für frischgebackenes Halwa fast zu jeder Schandtat bereit gewesen sein) und wird, dürftig gekleidet, wie er ist, recht unfreundlich behandelt. Also geht Nasruddin nach Hause, kommt kurz darauf mit seinem besten Pelz zurück und auf einmal ist alles eitel Zuvorkommenheit, zumindest bis sich der Mulla unter dem Gemurmel "Iss, mein Pelz, iss!" Fleischstücke in seine Pelztaschen stopft. Aktionen wie diese, wo des Mullas Seltsamkeit klar auf die gesellschaftlichen Fassaden, deren Lächerlichkeit er durch seine Handlung unterstreicht, zielt, dürften ihm auch den häufigen Vergleich mit Till Eulenspiegel eingebracht haben. Eine gewisse Verwandtschaft ist auch gar nicht zu leugnen, doch war der Anatole ingesamt wahrscheinlich der deutlich angenehmere Zeitgenosse, dessen Hang zu Schabernack und Trickserei von seiner Anteilnahme an den Mitmenschen und seiner tiefverwurzelten Heiterkeit mehr als ausgeglichen wurde. Vor allem in jungen Jahren, aber auch später bei akuter Geldnot ist klar ersichtlich, dass er einen glänzenden Gauner abgegeben hätte, immerhin bringen es seine Methoden mit sich, dass es meist die trifft, die es verdienen (z. B. füllt er einen leeren Geldbeutel mit kleinen Metallstücken, Scherben und dergleichen und kassiert von manchem habgierigen "Effendi, Sie haben da etwas verloren!" Finderlohn).
Bedenklich erscheint beim Hodscha vieles, manches geradezu beunruhigend, wie etwa einem Kind, das er zum Brunnen Wasserholen schickt, vorher eine Ohrfeige zu geben, mit der Begründung, wenn der Knabe mit den Scherben zurückkomme, sei es zu spät. Eine andere Ohrfeige trifft einen Freund, der sich beim Schachspielen andauernd selbst ob seiner miserablen Züge beschimpft ("Wer meinen Freund beleidigt, beleidigt mich!").
Nein, gewalttätig ist er gar nicht, aber ziemlich unberechenbar, weise und verrückt, sanft und aufbrausend, flexibel und störrisch wie sein geliebter, ihm angeblich (kühn vorspringende Nase, kleiner Mund und zwei auffallend große Ohren) nicht unähnlicher Esel. Manche Geschichten entziehen sich, wie der Herausgeber befriedigt meint, auf subtile Weise dem Begriffenwerden - neben dem reichen Fundus an Witz und Humor besteht in diesem Unberechenbaren, schwer zu Durchschauenden der zweite große Vorzug der Mulla-Geschichten.
Die Königsnarrenrolle, den Hofnarren, dürfte der historische Mulla Nasruddin übrigens mit einiger Sicherheit wirklich gespielt haben, und zwar für keinen Spaßigeren als den grausamen Mongolenfeldherrn Timur: wie viele Male auch immer es waren, die Nasreddin zur Erheiterung des Schrecklichen, der sich selbst die Geißel der Menschheit nannte, vorgeladen wurde und wie viel Wahres an den diesbezüglichen Geschichten ist - er scheint es überlebt zu haben.
Und wie hält`s der Mulla mit der Religion? Am liebsten sind ihm Umstände, die einen heiter-spielerischen Umgang mit theologischen Begriffen erlauben; wenn von einem Eiferer herausgefordert, kann er Wert auf die Behauptung legen, dass der Koran das Beißen von Wein nicht untersage; und wenn es einmal darauf ankommt, erweist er sich auch als braver Moslem, der sich im Auftrag des Sultans in einen Wissensstreit mit einem gelehrten andersgläubigen Mönch begibt, um eine selten unideologische Bekehrung zustandezubringen. Der Hodscha beantwortet die letzte, entscheidende Frage des Mönchs, wie viele Haare sich denn in dessen Bart befänden, damit, dass es exakt so viele seien wie im Schwanz seines Esels. Man brauche sie ja nur auszurupfen und nebeneinanderzulegen - , der Mönch indes zieht es vor, auf das Antreten der Beweisstücke zu verzichten.

(fritz; 10/2005)


Michael Günther (Hrsg.): "Mulla Nasruddin"
Atmosphären, 2005. 264 Seiten.
ISBN 3-86533-033-9.
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Die Wandlungen des Wucherers

Mulla Nasruddin hatte gerade sein Haus verlassen, um für den Esel Futter zu kaufen, da hörte er vom Ende der Straße her lautes Rufen und Schreien. Gleich eilte er zu der Stelle, von wo der Lärm herkam. Dort befand sich ein kleiner, aber tiefer Teich. An seinen Ufern drängte sich eine dichte Menschenmenge, die wild durcheinander schrie. Endlich verstand der Mulla, dass ein Mann ins Wasser gefallen und in Gefahr war zu ertrinken. Rasch bahnte sich der Mulla einen Weg durch die Leute. In diesem Augenblick tauchte der Verunglückte aus dem Wasser empor. Sein Gesicht und seine Haare waren mit Schlamm und Schlinggewächsen bedeckt. Er schlug wild um sich und begann sogleich wieder zu versinken. Die Menge ringsum war still geworden und hatte den Kampf des Ertrinkenden unentwegt beobachtet. Da wurde der Mulla von großem Zorn erfasst.
"Warum steht ihr da wie Klötze?", schrie er die Umstehenden an. "Könnt ihr nicht dem Unglücklichen helfen, statt Maulaffen feilzuhalten?"
"Das wollen wir nicht!", sagte ein großer, kräftiger Kupferschmied. "Der Mann ist Shafar, der Wucherer, der sein Geld gegen hohe Zinsen verleiht!"
"Er hat mir mit Lug und Trug mein Haus weggenommen!", schrie eine Frau. "Und dann hat er mich mit den Kindern auf die Straße gejagt!"
"Meinen einzigen Sohn hat er als Sklaven verkauft!", rief ein Alter klagend. "Wenn dieser Mann dort nun ertrinkt, so ist es die gerechte Strafe Allahs, die wir nicht aufhalten dürfen!"
"Ihr handelt nicht recht, Leute!", wies sie der Mulla zurecht. "Wenn dem Wucherer von Allah eine Strafe bestimmt ist, so wird er ihr auch ohne euer Zutun früher oder später nicht entgehen. Von euch aber ist es schlecht und unwürdig, einem Menschen in Not die Hilfe zu versagen!"
Die Leute blickten beschämt zu Boden. Plötzlich tauchte der Wucherer neuerlich aus der Flut auf. Jetzt streckten sich zahlreiche Arme dem Ertrinkenden entgegen.
"Gib mir deine Hand!", rief man von allen Seiten. "Gib, Shafar! Gib!"
Doch der Unglückliche starrte hilflos in die Menge. Ohne auch nur einen Arm zu heben, sank er erneut in die Tiefe.
"Es ist doch Allahs Wille, dass Shafar ertrinken soll!", sagte der Kupferschmied finster.
"Nein!", rief Nasruddin. "Ihr habt es falsch gemacht! Ihr habt immer wieder 'Gib!' gerufen - ihr hättet 'Nimm!' rufen sollen! Ihr wisst doch, dass Shafar ein Geizhals und Wucherer ist. Das Wort 'Gib!' verursacht in seinem Körper eine Lähmung, so dass er keine Hand rühren kann!"
Da, wie durch ein Wunder, tauchte Shafar ein drittes Mal aus dem Wasser des Teichs auf. An seinem bleichen Gesicht erkannte man, dass es sicherlich das letzte Mal war. Der Mulla drängte sich so nahe an das Ufer, dass er beinahe selbst in den Teich gefallen wäre.
"Nimm!", rief er. "Hier, Shafar, nimm meine Hand!" Und wirklich, der Verunglückte fasste zu und Mulla Nasruddin zog ihn sogleich ans trockene Land. Da lag er nun wie leblos und die Wasserbächlein rannen an ihm herunter. Dann kehrte endlich sein Geist zurück. Er öffnete die Augen und blickte auf seinen Retter.
"Du sollst 100 Goldstücke haben!", sagte er mit schwacher Stimme zu ihm. Der Mulla winkte lächelnd ab.
Shafar schien sich zu besinnen. "Nein, ich werde dir nur 50 geben!", murmelte er und setzte sich langsam auf. "Ich hätte gewiss noch länger im Wasser ausgehalten!"
Und ehe die Umstehenden es dachten, stand der Wucherer zitternd auf den Beinen. "ich werde dir doch nur 25 Goldstücke schenken, Mulla!", sagte er laut. "Denn ein wenig später wäre ich auch allein aus dem Teich gekommen!"
"Lebe wohl, Shafar!", sagte Mulla Nasruddin und wandte sich eilig zum Gehen. "Ich fürchte, dass ich dir am Ende noch die Kleidung ersetzen muss, die du im Schlamm des Teichs verdorben hast!"

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