Javier Moro "Der Fuß von Jaipur"

"Was zählt, ist nicht das, was dir bleibt, sondern das, was du aus dem machst was dir bleibt".


Dieser Satz ist für mich der Schlüsselsatz des Romans und auch der für unser aller Leben. Ein Bekenntnis dazu, dass Leben in jeder Form lebenswert und erfüllend sein kann und ein Aufruf zu Mut und Hoffnung in jeder Situation.

Der Autor Javier Moro, geboren 1955 in Madrid, hat nach einem Studium der Geschichte für verschiedene Medien im In- und Ausland gearbeitet. Seit 1975 ist er als Rechercheur und Co-Autor für Dominique Lapierre und Larry Collins tätig. 1984 zog er nach Los Angeles und entwickelte Kino- und Fernsehprojekte. Heute lebt der Autor wieder in Madrid. Für die Schicksalsgeschichte zweier junger Männer hat er intensiv recherchiert und einen Roman ohne jedes Tabu geschaffen.

Die außergewöhnliche Freundschaft zwischen Christophe, einem jungen Franzosen und Song, einem Kambodschaner beginnt in einer südfranzösischen Klinik. In einem Moment der absoluten Verzweiflung für Christophe bricht sein Zimmernachbar Song sein Schweigen und beginnt von seinem furchtbaren Leben in Kambodscha zum Zeitpunkt der Herrschaft der Roten Khmer zu erzählen. Die Geschichte, die Song nachts erzählt, bereitet Christophe Alpträume. Die Einsamkeit des Kambodschaners erscheint ihm grausamer als seine Unbeweglichkeit, denn letztendlich hat Christophe die Gunst der Liebe erfahren und die üblichen Verrücktheiten seines Alters unternommen. Er hat gelebt, aber Song hatte man seine Jugend gestohlen. Christophe findet seinen Lebensmut wieder und der Beginn einer lebenslangen Freundschaft ist besiegelt.

Christophe ist Anfang 20, voller Tatendrang und Lebenslust, hat seine große Liebe Mathilde gefunden, als er durch einen Badeunfall fast vollständig gelähmt wird. Die Prognosen für ihn stehen außerordentlich schlecht. Doch er überlebt, bleibt aber bis auf Kopf und Schulterbereich vollständig gelähmt. Trotz vernichtender Prognosen der Ärzte geben er und seine Familie nicht auf und kämpfen für eine gute medizinische Behandlung. Schließlich finden sie eine Klinik in Südfrankreich, die auf derartige Fälle spezialisiert ist und versucht neue Wege im Interesse der Patienten zu gehen. Als sich Christophe bei dem behandelnden Krankenhaus über seine Wunschklinik erkundigt, lernt der Leser eine traditionelle Institution kennen, die sich auf ihren Lorbeeren ausruht und keine Mittel scheut, um die Konkurrenz zu verleumden. Der Grabenkrieg zwischen verschiedenen Institutionen mag bei allen Berufsgruppen üblich sein, doch in keiner anderen Sparte wie der Medizin können die Folgen für den Einzelnen so dramatisch sein. Christophe lässt sich aber nicht beirren und findet nach einigen Jahren endlich Ärzte, die ihm Hoffnung und Alternativen für ein vielleicht wieder selbstbestimmtes Leben bieten können.

Durch seine Freundschaft mit Song, der zwar den Roten Khmer entkommen aber vollkommen traumatisiert ist, lernt er viel über dessen Land und die Umstände der Menschen dort kennen. Er erkennt, welch privilegiertes Leben er bis zu seinem Unfall führen konnte und auch jetzt noch immer führt im Vergleich zu den behinderten Menschen in Ländern ohne ausreichende ärztliche Betreuung. Aus dieser Freundschaft und aus dem Zusammenleben mit den vielen anderen Patienten, denen alle eine schwere Behinderung gemeinsam ist, schöpfen Beide Lebensmut. Sie helfen sich gegenseitig, richten sich wieder auf, orientieren sich an den Fortschritten und Krisen der anderen Patienten immer mit dem Ziel vor Augen, eines Tages wieder ein unabhängiges Leben führen zu können.

Christophe muss eine Reihe von Operationen über sich ergehen lassen ohne je eine absolute Sicherheit über deren Ausgang zu haben, da es derartige Operationen in Europa bis dato nicht gegeben hat. Trotz etlicher Rückschläge findet er immer wieder den nötigen Mut, die Kraft und vor allem die positive Einstellung um weiterzumachen bzw. neuanzufangen um seinem Ziel auf ein selbstbestimmtes Leben jeden Tag ein Stück näher zu kommen.

Auch Song findet den für ihn richtigen Weg, wenn er auch über den Umweg Amerika führt. Nach seiner Entlassung aus der Klinik findet er bei seinem einzigen Verwandten in Amerika Unterkunft. Doch er kommt mit dem amerikanischen "way of life" nicht zurecht. Nach einiger Zeit des Aufenthaltes wird ihm langsam klar, dass die Freiheit, nach der er sich so lange gesehnt hat, nicht in der Bewegungsfähigkeit liegt, sondern in seinem Kopf stattfindet. Wirklich frei könnte er nur sein, wenn er sich in seiner Haut wohl und in seiner Umgebung behaglich fühlte. "Wozu frei sein" fragte er sich, seit er in Amerika war immer wieder, "um wie ein Tier zu schuften und stolz darauf zu sein, im reichsten Land der Welt zu leben?" Doch es sollte noch einige Zeit dauern, bis Song letztendlich den Weg zurück in seine Heimat und seine Berufung findet.

Diese berührende Geschichte zeigt dem Leser, wie viel Mut und Energie nötig ist, eine solche Herausforderung des Lebens positiv zu meistern. Wie oft hat jeder von uns schon gehört und auch selbst gedacht "Wenn mir so was passieren würde, würde ich mich umbringen!" Aber die Hauptdarsteller in diesem Roman bringen sich nicht um, im Gegenteil sie mobilisieren Kräfte, von denen sie nicht einmal wussten, dass sie sie besitzen. Es ist ein wirklich starkes Buch, ein Buch über den Sinn des Lebens und über die Schrecken und die Verwüstung, die Kriege hinterlassen, über Nächstenliebe und Freundschaft, über Gleichgültigkeit und Aufopferung, über Mut und Hilfe weit über alle Grenzen hinweg und eine Aufforderung, jeden Moment des Glücks wie ein wertvolles Geschenk zu behandeln.

Dieser Roman führt uns auch vor Augen, daß es die sogenannten "normalen" Menschen sind, die Barrieren für die behinderten Menschen aufbauen, wo doch Mauern niedergerissen werden sollten. "Behinderung entsteht im Blick des Anderen", gibt einmal ein engagierter Arzt Christophe als Antwort. Spätestens nach der Lektüre dieses Buches dürfen wir solche Blicke nicht mehr zulassen.

(Margarete; 02/2002)


Javier Moro: "Der Fuß von Jaipur"
Europaverlag, 2002. 288 Seiten.
ISBN 3-203-80095-0. ca. EUR 19,90.
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