Anna Mitgutsch: "Familienfest"


Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen und darüber erzählt, wird nie alt werden.

Anna Mitgutschs Roman "Familienfest" ist eine Familiensaga, in der die wechselhafte Geschichte einer jüdischen Einwandererfamilie erzählt wird, die seit einigen Generationen in Boston, USA, lebt. Geschickt versteht die Autorin, einen Bogen über ein ganzes Jahrhundert Familiengeschichte zu spannen, die Charaktere sind geprägt von Überlieferungen, Fantasien und Wünschen.

Die Hauptfigur dieses Romans ist die eindrucksvolle alte Edna, mit ihr beginnt - und mit ihrem Begräbnis endet - die Geschichte. Man lernt drei Generationen der Familie Leondouris kennen, beginnend bei Ednas Eltern, die aus Europa in die USA einwanderten, bis hin zum Leben der jüngsten Generation. Den Rahmen dazu bilden drei Feste, bei denen aus der Perspektive der Familienmitglieder Edna, Marvin und Adina erzählt wird.

Im ersten Teil, "Edna", treffen sich die wenigen in Boston lebenden Mitglieder der weitläufigen Familie Leondouris ein letztes Mal bei Edna zur traditionellen Seder-Feier in ihrem vornehmen Haus am Beacon Hill - zwei Wochen vor Ednas Umzug ins Altersheim. Edna nutzt solche Gelegenheiten, um immer wieder an die Geschichten der einzelnen Familienmitglieder zu erinnern. In unzähligen Episoden zeichnet sie das Bild einer Familie, deren Mitglieder sowohl glückliche Zeiten erlebten als auch schwere Schicksalsschläge hinnehmen mussten. Obwohl Edna weiß, dass die jüngere Generation kein übermäßiges Verlangen nach ihren Geschichten hat, gibt sie die Hoffnung nicht auf, dass die Erzählungen als Familienbesitz in den Jüngeren fortleben werden.

Im zweiten Abschnitt, "Marvin", wird Thanksgiving bei Ednas Großneffen gefeiert. Dieses Mal ist die Familie und auch Edna, die mittlerweile in ihrem Domizil in Revere lebt, bei Marvin, seiner Frau Carol und ihrem nach einem Unfall behinderten Sohn Jonathan zum Familienfest eingeladen. Der Collegeprofessor würde gerne aus seinem geordneten bürgerlichen Leben ausbrechen und mit Tatjana, einer Ärztin aus Alma Ata, mit der er über Internet korrespondiert und glaubt, in ihr die Lebenspartnerin gefunden zu haben, die für ihn bestimmt ist, alles hinter sich lassen, noch einmal von Neuem beginnen. Doch schlussendlich hat er nicht die Kraft dazu und kehrt resigniert zurück ins gewohnte Leben.

Im letzten Teil, "Adina", ist Edna noch einmal Mittelpunkt eines Familienzusammentreffens. Bei ihrem Begräbnis sind alle Familienmitglieder anwesend, über die in den vorangegangenen Abschnitten erzählt wurde. Adina hat die Großtante, die früher so fremd und in ihrer aristokratischen Haltung einschüchternd erschien, in den letzten Monaten oft besucht. In diesem kurzen Zeitraum wurde die alte Dame ihr zur lieben Vertrauten. Sie hat trotz ihrer Jugend verstanden, dass Familie auch Zusammenhalt bedeutet, und wird so zur Erbin der Erinnerungen und dafür sorgen, dass Ednas Träume vom Weiterbestehen der Familiengeschichte in Erfüllung gehen.

Souverän, mit Fantasie und Witz, mit Zärtlichkeit und Ironie malt die Autorin das große, bunte Tableau einer Familie über Generationen hinweg. Anna Mitgutschs Geschichte um das Haus Leondouris ist einer jener Romane, zu denen man immer wieder zurückkehren kann.

(Andrea Ciza; 11/2003)


Anna Mitgutsch: "Familienfest"
Gebundene Ausgabe:
Luchterhand, 2003. 416 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
btb, 2005.
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Anna Mitgutsch wurde 1948 in Linz geboren. Sie studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Salzburg. Dr. Phil. 1974 mit einer Dissertation über zeitgenössische englische Lyrik; Assistentin an der Amerikanistik der Universität Innsbruck, Lehrtätigkeit an britischen Universitäten und in Seoul, Südkorea.
Von 1979 bis 1985 lehrte sie in den USA als Assistant, danach war sie als Professor an Universitäten und Colleges in New York und Massachusetts tätig. Seit 1985 ist sie freischaffende Autorin, lebt in Linz und Boston und hält sich wiederkehrend in Israel auf.

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