Pascal Boyer: "Und Mensch schuf Gott"

Ein neuer Impuls für ein sehr altes Thema


Die Religion dürfte derzeit das Thema sein, welches weltweit die größte Brisanz besitzt. Neben der klassischen Grenzlinie zwischen Theisten und Atheisten werden ständig neue Gräben zwischen den einzelnen Religionen ausgehoben. Anders als unsere europäischen Religionskriege, die eigentlich eher (macht-) politisch einzuordnen sind, beobachten wir aus zeitgeschichtlicher Nähe mit Staunen, dass abweichende religiöse Vorstellungen immer noch oder schon wieder als hinreichende Motivation für Gewalt im großen und kleinen Stil ausreichen. Dass diese Gewalt sich interkulturell bemerkbar macht, ist keine Überraschung, aber dass intrakulturell inzwischen Sunniten Schiiten in die Luft sprengen, lässt uns aus europäischer Distanz doch staunen.

Doch was ist Religion überhaupt? Dieser Frage geht Pascal Boyer anthropologisch nach und kommt zu ganz unspektakulären Schlüssen, die aber ein neues Licht auf ein sehr altes Phänomen werfen. Er bedient sich aus dem großen Fundus der ethnologischen Feldforschung, wo auch Teile seiner wissenschaftlichen Vergangenheit liegen. Boyer belegt, dass religiöse Muster wohl in allen Kulturen des homo sapiens anzutreffen waren und auch noch sind. Die Arbeitsthese lautet also: Wenn in vergleichsweise einfachen ethnischen Gruppen Religiosität anzutreffen ist, dann müssen die Mechanismen auch einfacher Natur sein. Er untersucht die Elemente religiöser (kontraintuitiver) Konstruktionen, deren Entstehung und Verbreitung. Die Träger dieser religiösen Merkmale, also die Geister (Ahnen) und Götter, werden in aller Regel zu Partnern und Mentoren, mit denen die Menschen in mehr oder intensiven Verbindungen stehen. Diese Partner verfügen zumeist über strategisches Wissen und verstehen die Menschen in ihren jeweiligen Situationen, können nachvollziehen, warum sie so handeln, wie sie handeln. Boyer bestreitet auch, dass es ein spezielles Religionszentrum im Gehirn gibt. Da religiöse Prozesse Teil der normalen sozialen Interaktion sind, werden, wie auch bei vergleichbaren mentalen Prozessen, verschiedene normale Subsysteme daran beteiligt. Dass intensive religiöse Erfahrungen wie Meditationen oder Nahtoderfahrungen auch stärkere organische Belastungen bedingen, widerspricht dieser These übrigens nicht.

Fazit:
Das ist die von Boyer präsentierte Plattform, auf der die Menschen und die Kulturen ihre einzelnen Religionen aufbauten. Und so bildete sich das scheinbare Paradoxon heraus, dass die persönliche Religion eines jeden Menschen einerseits etwas ganz Besonderes und ganz Persönliches ist - da wird auch niemand widersprechen. Aber diese persönliche Religion stellt andererseits ein elementares anthropologisches und völlig unspektakuläres Moment dar, und da werden vermutlich viele widersprechen. Aber Boyers Thesen sind in einem starken Maße evident, denn es gibt nun einmal Milliarden von Menschen auf dieser Welt mit einer ganz persönlichen Religiosität. Und alle der etwa 20 Hauptrichtungen der Weltreligionen wissen jeweils, dass die Anhänger der anderen 19 gerade dabei sind, ihr Seelenheil zu verspielen - die Atheisten nicht zu vergessen. Das müsste doch zumindest den ein oder anderen arithmetischen Zweifel an dem universalen Anspruch der eigenen Vorstellung ermöglichen.

Die friedliche Koexistenz der Kulturen und ihrer Religionen ist die große politische Herausforderung des 21. Jahrhunderts, zu dem dieses Buch einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Die notwendige Erkenntnis der Austauschbarkeit religiöser Einzelerfahrungen erfordert aber auch durchlässige theologische Konstruktionen anstelle der scholastischen Festungen momentaner Prägung, wie sie in den Buchreligionen anzutreffen sind.

(Klaus Prinz; 01/2006)


Pascal Boyer: "Und Mensch schuf Gott"
(Originaltitel "Et l’homme créa Dieu / Religion Explained.
The evolutionary Origins of Religious Thought")
Übersetzt von Ulrich Enderwitz, Monika Noll und Rolf Schubert.
Klett-Cotta, 2004. 428 Seiten.
ISBN 3-608-94032-4.
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Pascal Boyer, französischer Abstammung, ist Religionsphilosoph. Boyer unterrichtete an englischen Colleges und hat Lehraufträge in den USA und einen Forschungsauftrag am Institut für Kognitive Wissenschaft in Lyon, Frankreich.

Ein weiterer Buchtipp:

Tullio Aurelio: "Gott, Götter und Idole. Und der Mensch schuf sie nach seinem Bild"
Ü
ber Gott schreiben, wenn man von ihm nichts weiß
Ein Buch über den Menschen und die Götter, die seine Welt bevölkern
Ein unterhaltsamer und anregender Streifzug durch die Welt der Bibel und der Religion
Ein persönliches Buch von einem, der 30 Jahre theologische Bücher verlegt hat
Jedes Ding hat eine Bezeichnung, einen Namen, der den Anspruch erhebt, das Ding wesenhaft zum Ausdruck zu bringen. Mit Gott ist es indes zum Einem schwierig, weil sich Gott nicht gerne fassen lässt, zum Anderen gefährlich. Denn ein Name engt ein. Ein Derwisch sagte: "Gott kann man nicht in einen Namen pressen. Ein Name ist ein Gefängnis." Und alle Wesen, die einen Eigennamen haben, weil sie darin gepresst werden, sind begrenzt und sterben aus. Götter, die einen Namen haben, sind ausgestorben. Oder sie sind in den Mythen der Vergangenheit wieder zu finden: tote Götter, die nur in der Fantasie der Menschen gelebt haben - wie Zeus, Hera, Aphrodite, Isis, Re, Amun, Hapi, Odin oder Thor.
Wie nun steht es mit Jahwe? Überlebt er noch? Überlebt er noch, weil die Juden seinen Namen gar nicht mehr aussprechen? Einen unaussprechlichen Namen ...
"Ich weiß, dass ich nicht weiß." Der Theologe und Verleger Tullio Aurelio hält es mit Sokrates. Er legt hier ein wahrhaft theo-logisches Buch vor, in dem er über Gott redet - über den er eigentlich gar nichts weiß. Aber trotzdem viel zu erzählen hat.
Tullio Aurelio, geboren 1945, Dr. theol., begann seine berufliche Karriere 1978 beim "Patmos Verlag". Erst als Lektor, später als Programmleiter, übernahm er schließlich von 1985 bis 2007 die Verlagsleitung. Seit 2007 leitet er den "Karl Rauch Verlag" in Düsseldorf.
(Gütersloher Verlagshaus)
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Leseprobe:

Was ist der Ursprung?

Ein Dorfnachbar sagt mir, ich solle mich vor Hexen schützen. Sie könnten mich sonst mit unsichtbaren Pfeilen beschießen, die in meine Adern eindringen und mein Blut vergiften.

Ein Schamane verbrennt Tabakblätter vor einer Reihe kleiner Figuren und spricht mit ihnen. Er sagt ihnen, er müsse sie auf eine Reise in abgelegene Dörfer im Himmel schicken. Das Ganze diene dem Zweck, jemanden zu heilen, dessen Seele von unsichtbaren Geistern gefangen gehalten werde.

Eine Gruppe von Gläubigen zieht über Land und warnt jeden vor dem bevorstehenden Ende. Als Tag des Jüngsten Gerichts sei der 2. Oktober bestimmt. Der Tag kommt, und nichts passiert. Trotzdem reden sie weiter davon, das Ende sei nahe (nur das Datum habe sich geändert).

Dorfbewohner veranstalten eine Zeremonie, um einer Göttin kundzutun, sie sei im Dorf nicht länger erwünscht. Sie habe sie nicht vor Epidemien bewahren können, und daher hätten sie beschlossen, sie zu "verstoßen" und sich nach einem tüchtigeren Ersatz umzusehen.

Eine Versammlung von Priestern findet es beleidigend, was manche Menschen über ein Ereignis sagen, das sich Jahrhunderte zuvor an einem weit entfernten Ort zugetragen hat, wo eine Jungfrau angeblich ein Kind gebar. Deshalb haben diese Menschen den Tod verdient.

Die Anhänger eines Inselkults beschließen, ihren gesamten Viehbestand zu töten und ihre Erntevorräte zu verbrennen. Sie brauchen diese Dinge nicht mehr, sagen sie, weil bald, als Belohnung für ihre guten Taten, ein Schiff beladen mit Gütern und Geld an ihrer Küste landen werde.

Meine Freunde werden angehalten, in die Kirche oder an irgendeinen anderen ruhigen Platz zu gehen, um mit einem Unsichtbaren zu sprechen, der überall in der Welt zugegen sei. Dieser unsichtbare Zuhörer wisse schon, was sie sagen würden, weil ER nämlich alles wisse.

Man klärt mich auf, ich müsse, wenn ich mächtigen Toten - die mir in Notzeiten würden helfen können - huldigen wolle, das Blut einer weißen Ziege über der rechten Seite eines bestimmten Felsens hingießen. Mit einer Ziege anderer Farbe oder an einem anderen Felsen werde es allerdings nicht funktionieren.

Der Leser mag versucht sein, diese kurzen Skizzen als eine Hand voll Beispiele aus der endlosen Galerie menschlicher Torheiten abzutun, und es dabei belassen. Womöglich sieht er aber auch in diesen knappen, wenngleich unendlich erweiterbaren Beschreibungen Zeugnisse einer faszinierenden Fähigkeit des Menschen, die Welt und das Leben zu begreifen. Ob er so oder so reagiert, in jedem Fall bleiben einige Fragen offen. Warum haben die Menschen solche Gedanken? Was bringt sie dazu, so etwas zu tun? Warum hängen sie so unterschiedlichen Glaubensvorstellungen an? Warum ist die Bindung an ihren jeweiligen Glauben so stark? Fragen wie diese wurden, um hier eine Unterscheidung Noam Chomskys aufzugreifen, bislang als Mysterium eingestuft (wir wussten nicht einmal, wie wir damit umgehen sollten), mittlerweile sind sie zu Forschungsaufgabe geworden (immerhin haben wir eine Ahnung, wie eine Lösung aussehen könnte). Wir verfügen sogar schon über erste Ansätze einer solchen Lösung. Sollte das dünkelhaft oder überheblich klingen, so will ich rasch hinzufügen, dass sich dieses "wir" tatsächlich auf einen Kreis von Menschen bezieht - und nicht etwa ich eine neue Theorie habe und diese gar für allgemein verbindlich halte. Ich werde im Verlauf dieses Buches auf diverse Forschungsergebnisse und Denkmodelle aus der Kognitionspsychologie, der Ethnologie, der Linguistik und der Evolutionsbiologie zu sprechen kommen, die allesamt von anderen Autoren stammen. Die meisten von ihnen haben gar nicht auf dem Gebiet der Religion gearbeitet, und sie ahnten auch nicht, dass ihre Befunde der Aufklärung über das Phänomen der Religion dienlich sein könnten. Und obwohl die Bücherregale von Abhandlungen zur Religion und Religionsgeschichte, zu den Glaubensvorstellungen religiöser Menschen und ähnlichen Themen überquellen, halte ich es für sinnvoll, all dem etwas hinzuzufügen. Ich werde in diesem Buch zeigen, dass das ehemals undurchdringliche Mysterium Religion mittlerweile nichts weiter ist als eine erhebliche Anzahl schwieriger, aber lösbarer Probleme.

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