Michael Pauen: "Was ist der Mensch?"

Die Entdeckung der Natur des Geistes


"Die Entdeckung der Natur des Geistes wird uns sicherlich eine Vielzahl neuer Erkenntnisse über uns selbst liefern - eine Revolution unseres Menschenbildes ist jedoch nicht zu erwarten." (Michael Pauen in seinem Resümee zu "Was ist der Mensch?")

Eine philosophische Standortbestimmung

Bereits im Vorwort macht Autor Pauen deutlich, dass kaum eine andere Wissenschaft in den letzten Jahren soviel Aufmerksamkeit erregt hat, wie die Hirnforschung. Warum ist das so? Liegt es daran, dass das Objekt der Hirnforschung identisch ist mit dem Subjekt? In keiner anderen Disziplin wird derzeit heftiger am Selbstverständnis des Menschen gerüttelt als in der Hirnforschung. Gibt es eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? Einerseits glauben wir, dass es in unserer Welt naturwissenschaftlich zugeht, andererseits neigen wir zu der Vorstellung, dass uns zentrale Fähigkeiten wie Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Willensfreiheit auch gegenüber der Natur autonom machen.

Das Buch gliedert sich in zwei Haupteile. Im ersten Teil "Seelen- und Entstehungsmythen" stellt Pauen infrage, ob es historisch gesehen, die vielfach behaupteten fundamentalen "Kränkungen" des Menschen durch die Lehren von Kopernikus (Die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Universums), Darwin (Der Mensch entstammt dem Tierreich) und Freud (Das "Ich" ist nicht Herr im eigenen Hause) überhaupt gegeben hat. Er erläutert umfassend den Begriff Naturalismus und bezeichnet den Konflikt zwischen Naturalismus und Menschenbild als ein Missverständnis. Nichts deutet hin auf eine Degradierung des Menschen. Menschliche Fähigkeiten werden naturalisiert aber nicht abgewertet. Die Grenze des Erklärbaren verschiebt sich. Das galt in der Vergangenheit für Begriffe wie Lebenskraft, göttlicher Schöpfungsakt oder immaterielle Seelensubstanz, und es wäre naiv, dies für die Zukunft ausschließen zu wollen. Naiv wäre es aber auch, aus naturalistischen Erklärungen die Gewissheit abzuleiten, dass unser Verständnis geistiger Fähigkeiten niemals auf irgendwelche Grenzen treffen wird.

Im zweiten Teil des Buches geht es um systematische Argumente für eine Auflösung der Konflikte zwischen Naturalismus und Menschenbild. Hier fließen insbesondere die Ergebnisse neurowissenschaftlicher Forschungen ein. Pauen insistiert, dass auch die moderne Hirnforschung, die sich mit dem phänomenalen Bewusstsein, mit dem Selbstbewusstsein und mit der Willensfreiheit beschäftigt, nichts am Menschenbild ändern wird. Er bedient sich bei seinen Argumentationen sowohl naturwissenschaftlicher als auch sozial- und geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse.

In "Das Problem des Bewusstseins" geht Pauen der Frage nach, ob bewusste geistige Prozesse rein physische Prozesse sind. Im Prinzip handelt es sich dabei immer noch um das alte Leib-Seele-Problem. Unklar ist nämlich, ob wir eine hinreichend enge Verbindung herstellen können zwischen unseren Erkenntnissen über geistige Prozesse und denen über neuronale Prozesse, so dass wir Fragen, die bezüglich der geistigen Prozesse auftreten, mit unseren Theorien über physische Prozesse beantworten können.

Was ist Bewusstsein? Es gibt in dieser Welt nichts Vergleichbares. Bewusstsein tritt auf als das Bewusstsein einer Wahrnehmung, einer Empfindung, einer Stimmung oder eines Gedankens. Pauen unterscheidet vier Arten von Bewusstsein, nämlich Wachheit, kognitives Bewusstsein, phänomenales Bewusstsein (Qualia) und Selbstbewusstsein. Qualia sind charakteristisch für das Erleben bewusster Zustände, welches sich wissenschaftlich nicht erklären lässt. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass psychische Prozesse faktisch physische Prozesse sind, heißt das noch lange nicht, dass wir auch erklären können, wie psychische Prozesse auf der Basis physischer Vorgänge entstehen. Auch wenn das Gehirn vollständig enträtselt ist, fehlt noch immer eine Erklärung dafür, dass sich zum Beispiel Schmerzen so anfühlen, wie sie es nun einmal tun. Die Neurobiologie scheint einfach nicht das Wissen liefern zu können, das für eine Erklärung psychischer Prozesse erforderlich ist. Hinzu kommt, dass wir uns eine Erklärung von Bewusstsein einfach nicht vorstellen können. Bewusstsein ist keine Substanz, sondern lässt sich am ehesten als ein Aktivitätszustand bestimmter Hirnareale interpretieren.

Selbst wenn es für Bewusstsein eine Erklärung gäbe, wäre damit nicht das Ich erklärt. Oder ist das Ich nur eine Fiktion? Wessen Fiktion? So spricht Thomas Metzinger von einer unhintergehbaren Ich-Illusion, die im Grunde keine ist, weil sie niemandes Illusion ist. Hier spitzt sich die Diskussion zu. Kann man das Ich negieren, nur weil es unvereinbar scheint mit einem naturalistischen Forschungsprogramm? Die Gegenthese der Heidelberger Schule besteht darin, das Ich zu akzeptieren aber eine prinzipielle Grenze naturalistischer Erklärungsmöglichkeiten einzuräumen.

Pauen erkennt, dass es recht nebulöse Vorstellungen vom Ich gibt und spricht stattdessen von Selbst und Selbstkonzept. Er benennt Parameter, die das Selbst beschreiben und begibt sich damit zurück in die Spur des Naturalismus. Er erläutert, dass es keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen Naturalismus und unseren Vorstellungen von Selbst und Selbstbewusstsein gibt. Mit der Frage "Wie kann ich selbst meine eigene Existenz bestreiten?" bringt er das Thema auf den Punkt.

Auf vierzig Seiten erläutert Michael Pauen seine Thesen zur Willensfreiheit. Er begründet ausführlich, warum Freiheit und Determination einander nicht ausschließen. Damit rückt er ab von Thesen bekannter Hirnforscher. So behauptet zum Beispiel Psychologieprofessor Wolfgang Prinz in einem Interview aus dem Jahre 2004: "Für mich ist unverständlich, dass jemand, der empirische Wissenschaft betreibt, glauben kann, dass freies, also nichtdeterminiertes Handeln denkbar ist." Pauen stützt sich auf das Autonomieprinzip und das Prinzip der Urheberschaft, denen man gerecht wird, wenn man unter Freiheit Selbstbestimmung versteht. Nach seiner Auffassung existieren auch (oder gerade) in einer determinierten Welt Handlungsalternativen. So wie es in der Naturwissenschaft Ursachen gibt, orientiert sich menschliches Verhalten an Gründen. Damit beschreibt er einen Kategoriewechsel, der zu Ergebnissen führt, die dem menschlichen Erleben im Alltag gerecht werden. Freiheit im psychischen Sinne ist nicht gleichzusetzen mit Freiheit im physikalischen Sinne. Auf die Experimente von Benjamin Libet zur Willensfreiheit geht Pauen ausführlich ein. Er benennt Gründe, die gegen die populäre Interpretation sprechen, wie sie von Hirnforschern wie Wolf Singer und Gerhard Roth vertreten wird, dass mit den Experimenten die Willensfreiheit widerlegt wurde.

In den letzten Kapiteln beschreibt Pauen das Gehirn als soziales Organ. Eine umfassende Erklärung neurobiologischer Prozesse erfordert die Kenntnis des sozialen Umfelds, so wie umgekehrt neurobiologische Erkenntnisse zur Erklärung von sozialen Phänomenen herangezogen werden können. Das Gehirn ist ein soziales Organ. Das bedeutet, dass man Entstehung, Entwicklung und Funktion des Gehirns nur verstehen kann, wenn man den sozialen Kontext berücksichtigt. Neurobiologische Erkenntnisse können einen wichtigen Beitrag zum Verständnis unserer selbst leisten. Diesen Beitrag schätzt Pauen höher ein als den Nutzen der immer wieder behaupteten Widerlegungen unseres Menschenbildes.

Die Frage, ob jemals eine vollständige naturalistische Beschreibung und Erklärung menschlichen Handelns möglich sein wird, ist nicht zu beantworten. Pauen zeigt auf, dass naturalistische Erklärungen zu einer differenzierten Weltsicht führen und nicht am Menschenbild rütteln. Er polarisiert nicht. Seine Erläuterungen sind von der Vision getragen, dass eine Harmonisierung von Naturalismus und Menschenbild möglich ist. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag für das Verständnis der Probleme der Philosophie des Geistes.

(Klemens Taplan)


Michael Pauen: "Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes"
DVA, 2007. 272 Seiten.
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Michael Pauen, geboren 1956, ist Professor für Philosophie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zum Verhältnis von Neurowissenschaften und Philosophie und zu Fragen des Bewusstseins. 1997 erhielt er den "Ernst-Bloch-Förderpreis".

Ein weiteres Buch des Autors:

"Die Natur des Geistes"

Ist eine wissenschaftliche Erklärung unseres Geistes möglich? Diese Frage beantwortet dieses Buch.
Das "Jahrzehnt des Gehirns" ist lange vorbei, doch eine Erklärung des Geistes scheint ferner denn je. Müssen wir uns also damit abfinden, dass Bewusstsein niemals erklärt werden kann? Michael Pauen legt in seinem Buch dar, dass das Problem lösbar ist.
Die Forschungsgeschichte zeigt nämlich, dass sich unsere Vorstellungen von Geist und Gehirn immer wieder tiefgreifend verändert haben. Selbst wenn das Problem in seiner heutigen Gestalt unlösbar wäre - für die Zukunft können wir das noch lange nicht behaupten. Das gilt insbesondere für den scheinbar unüberwindlichen Gegensatz zwischen subjektiver Erfahrung und objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis. Damit wird ein umfassendes naturalistisches Verständnis des Geistes möglich - und eine überraschende Lösung zeichnet sich ab. (S. Fischer)
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