Max A. Höfer: "Meinungsführer, Denker, Visionäre"

Wer sie sind, was sie denken, wie sie wirken


Demokratisches Ranglistendenken

Am Anfang steht das Internet als Ort und Spiegelung einer tendenziell demokratisierten Medienkultur. Hier offenbaren sich Popularität und Missachtung und wer dies messen will, kann dies via Suchmaschinen - Google und Munzinger - tun. Internetrecherche nennt sich dieses Unterfangen und ist für den Journalisten Max A. Höfer ein durchaus adäquates Instrument zur Dokumentierung einer intellektuellen Landkarte Deutschlands. Dem Ergebnis haftet freilich die Flüchtigkeit eines Momentbefundes an (die Reihung des zwischenzeitlich zum Pontifex Maximus gekürten Kardinals Joseph Ratzinger auf Platz 185 ist wohl überholt), das gewiss, aber nimmt man das Internet als Seismografen intellektueller Befindlichkeiten ernst, darf es durchaus als demokratisches Auswahlkriterium und somit taugliche Grundlage zu weiterführenden Sondierungen herangezogen werden. Archive der Tageszeitungen runden schließlich die Recherche ab. Solcherart ermittelt der Autor aus einer Gesamtmenge von mehr als 2000 ausgewiesenen Denkern, Meinungsführern und Visionären eine Rangliste der populärsten 200, von denen, ob ihrer medialen Präsenz wegen, eine prägende Kraft auf den Geist unserer Zeit ausgeht. Der Klasse geht die Masse voran. Wer würde dies bezweifeln wollen? Und die aus dem virtuellen Raum zusammengetragene Sachgesamtheit ordnet sich in der Betrachtung hierarchisch, als Rangliste.

"Meisterdenker" oder auch "Großintellektuelle" nennt Höfer wiederholt die versammelte Schar illustrer Kopfmenschen, was zwar gleich die Fantasie zu ebenso einschlägigen wie polemischen Assoziationen anreget, womit aber noch keine Werkskritik eingeleitet ist. Zunächst wird erhoben - hernach geht es ans Eingemachte. Doch dazu später. Vorerst muss Höfer seine Methode erklären und gegen aufkeimende Kritik verteidigen, zumal nicht eine jede Person mit hoher Internetpräsenz deswegen gleich das Attribut eines Denkers verdient. Es wurde folglich auch nur in die Rangliste des Denkens aufgenommen, wer zumindest über ein eigenständiges intellektuelles Profil von gehobenem Format verfügt. Ein Udo Jürgens bleibt demnach ausgeschlossen, obgleich der Barde erst kürzlich mit seiner Autobiografie "Der Mann mit dem Fagott" unter das schriftstellendere Volk gegangen ist. Und natürlich - Höfer beklagt dies ausdrücklich - so mancher, dessen Denken einer eingehenderen Beachtung würdig wäre, liegt in der Rangfolge unter ferner liefen. Ein Los, das vor allem Naturwissenschafter trifft. - Stephen Hawking (120)!

Eine intellektuelle Landkarte Deutschlands

Wenig Überraschendes bringt nun das sogenannte "Top-200-Denker-Ranking" zutage, denn präsent ist, wer populär ist. Altvertraute Namen beherrschen die Rangliste: Günter Grass (1), Harald Schmidt (2), Martin Walser (3), Marcel Reich-Ranicki (4), Wim Wenders (5), Hans Magnus Enzensberger (6), Roland Berger (7), Jürgen Habermas (8), Peter Handke (9) und Christa Wolf (10) nehmen die ersten zehn Plätze ein. Mit diesen Herrschaften musste gerechnet werden. Überraschend ist jedoch die massive Dominanz der Literaten (5 Platzierungen unter den Top 10!), Publizisten und Philosophen. Abgeschlagen hingegen - wie zuvor schon bemerkt - sind die Naturwissenschafter, deren seriöse Befunde zum Zeitgeschehen offenbar weniger interessieren, als die Theaterskandale eines Claus Peymann (12) - der Großmeister des "Radical Chic" - oder der erbarmungslose Moralismus einer Elfriede Jelinek (15). Also von wegen Ohnmacht der schreibenden Zunft? Literaten von überragender Bedeutung für das deutsche Geistesleben glänzen übrigens durch ihre Abwesenheit, insofern sie nicht mehr unter den Lebenden weilen. Der gerade besonders populäre, weil diesjährig zum 200. Todestag jubilierende Friedrich Schiller, oder ein ungebrochen beliebter - zumal anrüchig und umstritten - Friedrich Nietzsche fehlen deswegen auf Höfers intellektueller Landkarte Deutschlands.

Erst mit Abschluss der einleitenden Ausführungen zur Reihenfolge (auf Seite 16 des dem Rezensenten vorliegenden Auflageexemplars) nimmt die eigentliche Lektüre ihren Lauf. Und wahrlich, bis jetzt war das Buch interessant. Nun wird es aufregend und spannend. In sechzig Einzelporträts skizziert Höfer das biografische Sein, Denken und Wirken der Alphatiere im intellektuellen Diskurs Deutschlands. Frauen - Alice Schwarzer (19) -, Ausländer - Salman Rushdie (16) - und jüngere Intellektuelle - Elke Heidenreich (29), immerhin auch schon 1943 geboren; oder der Komponist Wolfgang Rihm, geb. 1952, also geradezu jugendlich -, sie alle spielen dabei eine allerdings nur marginale Rolle. Silberhaarige Männer deutschsprachiger Herkunft dominieren die deutsche Diskursszene. Weder Frauen noch Jünglinge bedrohen das Patriarchat im deutschen Kulturbetrieb. Das Durchschnittsalter der Top 200 liegt bei stattlichen 67 Jahren. Wozu Höfer schlussendlich resigniert anmerkt: "Dieses Ranking zeigt die traurige Wirklichkeit." Geistige Erstarrung droht, zumal nicht nur greise, sondern eine Vielzahl von längst verstorbenen Denkern (sie fanden wie gesagt keinen Eingang in die Reihung) für das deutsche Geistesleben tonangebend sind. Für den Großintellektuellen Günter Grass scheint die altväterliche Vorherrschaft hingegen sehr wohl berechtigt: "Ich sehe bei der jungen Generation im Bereich der Literatur wenig Bereitschaft und wenig Interesse, diese Tradition, die zur Aufklärung gehört, nämlich des Mundaufmachens, des Sicheinmischens, fortzusetzen."
Eine Einschätzung, über die es sich nun gewiss trefflich streiten lässt, doch muss dazu auch die Frage gestattet sein, inwieweit sich Franzobel & Konsorten, oder wie immer sich der hoffnungsfrohe Nachwuchs nennt, zuletzt hilfreich verhielt, wann immer es darum zu tun war Altvater Grass in seiner pessimistischen Einschätzung der jungen Generation vermittels literarischer Taten zu widerlegen?

Max Höfer zeigt sich nun mittels der von ihm verfassten sechzig Einzelporträts nicht nur als Mann von erstaunlicher Gelehrsamkeit, sein Wissensfundus scheint unerschöpflich und von gediegener Qualität, sondern versteht darüber hinaus mit bissiger Polemik den Leser zu erheitern. Eloquent und nicht bar jeder Streitlust wirft er sich unvermittelt ins Gefecht, eben nicht um zu dozieren, sondern um intellektuell aufzureizen. Und obgleich die Wissensvermittlung vorherrscht, so langweilt der Autor keinesfalls mit einem Abklatsch professoraler Sachkunde. Ein Porträt nach dem anderen serviert sich als intellektueller Leckerbissen, weder mit Lob noch mit Kritik wird gespart - zuweilen schärft Pfeffer die Kost und brennt in der Kehle nach. Auf Empfindlichkeiten wird keine Rücksicht genommen - Tabuisierungen im Denken, die gibt es für Höfer nicht. In und zwischen den Zeilen macht sich ein intellektueller Freiheitsbegriff breit, der sich mit Querdenkern und Ketzern solidarisiert und den Wächtern tugendhaften Denkens höhnt. Die Herangehensweise ist allemal subjektiv und verrät zwischen den Zeilen eine - allfällig provozierende - weltanschauliche Positionierung, die aus der persönlichen Gesinnung keine Mördergrube macht, ohne deswegen den Leser mit aufdringlichen Belehrungen zu belästigen. Höfer hält sich als Person zwar im Hintergrund, jedoch verleugnet er deswegen nicht seine Autorschaft als politischer Kopf. Dazu sei vorerst nicht mehr verraten als dieses: Ein eifernder Zelot ist Höfer bestimmt nicht.

Linke Hegemonie

Betrachtet man die Ausführungen zu den Porträts im Überblick - als intellektuelle Landkarte Deutschlands - drängt sich der sicherlich nicht überraschende Schluss einer weltanschaulich linken Hegemonie auf. Die Großintellektuellen stehen überwiegend im linken Lager. Freilich wimmelt es darin von Dissidenten, deren, von selbsternannten Gesinnungswächtern gerne vorschnell als revisionistisch und faschistoid denunzierte, Abweichungen von der Orthodoxie linker Sprachregelung sind oftmals nicht viel mehr als die Folge einer (tatsächlichen oder auch nur eingebildeten) intellektuellen Redlichkeit, die sich keinem politischen Korrektheitsdiktat beugen möchte. So könnte es, nach der Darstellung Höfers, zum Beispiel bei den Historikern Ernst Nolte (76), dem zählebigen Paria, und Hans Mommsen (84), dem streitsüchtigen Vergangenheitsbewältiger, der Fall sein. Beide Forscher sind linker Provenienz und werden ob ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse als Revisionisten angefeindet. Nolte, der eine, weil er den Nationalsozialismus als primäre Reaktion auf die Vernichtungswut des Sowjetkommunismus deutet (der Gulag ist das Original; Auschwitz nur die Kopie) und weil er zuletzt (im Jahre 1994) das verbindlich geltende Geschichtsbild zum Holocaust als unwissenschaftlich anzweifelte und trotz beruflicher Strafmaßnahmen gegen seiner Person - die Frankfurter Allgemeine kündigte ihm die Zusammenarbeit - bei dieser ungehörigen Meinung blieb. Der andere, Hans Mommsen, Abkömmling der berühmten Mommsen-Dynastie, geriet wegen seiner These unter Beschuss, das NS-Regime sei planlos und nicht aus krimineller Zielstrebigkeit in die Diktatur hineingestolpert, wie denn auch die Genozid-Politik gegen das europäische Judentum einzig als Selbstlauf einer "kumulativen Radikalisierung" richtig zu verstehen sei. Einen Führerbefehl zur Vernichtung der Juden hätte es tatsächlich nicht gegeben. An die Stelle der üblichen Verbrechenstheorie tritt bei Mommsen eine Chaostheorie, die dann freilich das sogenannte größte Verbrechen aller Zeiten in einem anderen Licht erscheinen lässt. An die Stelle eines kriminellen Vorsatzes zum Rassen-Genozid, treten Unvermögen und schweres moralisches Versagen der bürgerlichen nationalkonservativen Eliten.
Für den Historikerkollegen Eberhard Jäckel macht sich nun der "Auschwitz-Lüge" bereits schuldig, wer den Judenmord als Ergebnis gezielter Politik bestreite, sowie die tendenziöse und trivialisierende Behauptung aufstelle, dass dieser Vorgang nicht einmalig gewesen sei, sondern Vorläufer gehabt habe, die sogar als Vorbild gedient hätten. Demnach - Höfer beruft sich auf einen Kommentar in der Berliner Zeitung - würden Nolte und Mommsen ihre Thesen zur deutschen NS-Geschichte künftig aus der Gefängniszelle heraus debattieren müssen.

Kein Zweifel, der Geist weht links, aber nicht, wo er will. Was zusehends Konflikte mit sich bringt, denn die Tugenden der Freigeisterei sind noch lange nicht aus der Welt verbracht und nehmen dabei - siehe Nolte, siehe Mommsen - zuweilen eine Gestalt an, die manch Anderen betroffen macht. Die deutsche Verfassung rechten Bewusstseins scheint immer wieder auf ein Neuerliches gefährdet zu sein. Der letzte Großintellektuelle, wie Höfer ihn respektvoll tituliert, Günter Grass (1), und insbesondere der bundesrepublikanische Staatsphilosoph Jürgen Habermas (8), der "Papst der Linken" (Die Zeit), fungieren als hypermoralische Wächter "demokratischer Grundwerte" zur Sicherung dieser akzentuiert antifaschistischen Nachkriegsverfassung. Nolte, Mommsen und dergleichen "Geschichtsrevisionisten", als wie auch Martin Walser (3) und Botho Strauß (13) rechtfertigen ob ihrer intellektuellen Ketzereien diesen Wächterstand zur sozialen Kontrolle korrekter Gesinnung vor sich selbst.

Großintellektuelle und Großinquisitoren

Ob seines häufigen Aufscheinens ist Habermas die wohl dominanteste Figur im Buch. Als Wächter über politische Korrektheit und Leitwolf rechten Denkens ist der deutsche Kultphilosoph zum literarischen Reibebaum prädestiniert. Höfer wirft dem Philosophen der kritischen Theorie das Gehabe eines "Großinquisitors" vor, der immer wieder zu Ketzerprozessen aufrühre. 1980 exkommunizierte er in seiner berühmten Rede zur Verleihung des Adorno-Preises die französischen Philosophen Jacques Derrida (20) und Michel Foucault aus der Gemeinde rechtgläubiger Aufklärer. Er nennt sie "Jungkonservative" und beschuldigt sie, "einen unversöhnlichen Antimodernismus zu begründen". 1986 entfacht Habermas aus Sorge um das antifaschistische Selbstverständnis der Bundesrepublik mit einem Zeit-Artikel den berühmt berüchtigten "Historikerstreit". Sein Gegenüber ist der Faschismusexperte Ernst Nolte (76), der für eine Normalisierung des deutschen Geschichtsbewusstseins plädiert. Martin Walser (3), der Prediger der Normalität, und Botho Strauß (13), ein "anarchistischer Rechtsintellektueller", als den ihn Daniel Cohn-Bendit bezeichnet (Nr. 10, des gesonderten Politiker-Rankings), gehören zu den Lieblingsgegnern des Frankfurter Großdenkers. Wiederholt überführt er sie des "gefährlichen Denkens". Als er jedoch den Philosophen Peter Sloterdijk (39) wegen eines 1999 gehaltenen Vortrags über Gentechnik als "nietzscheanischen Menschenzüchter" zu denunzieren versucht, trifft er in diesem auf einen gleichwertigen Gegner, der ihn in einem über die Medien geführten Machtkampf schmerzliche Blessuren zufügt. Nicht ohne Genugtuung und Häme merkt Höfer dazu an, dass Sloterdijk die Kontroverse ob seines angeblichen Nietzscheanismus nicht nur überlebt hat, sondern seither des furchtbaren Habermas  Ruhm im Schwinden sei. Freilich wusste der Autor zu dem Zeitpunkt, als er dies schrieb, noch nicht um die sich neuerlich anbahnende Geistesgenossenschaft zwischen Ratzinger und Habermas. Der deutsche Papst der Linken im Bündnis mit dem deutschen Papst der Katholiken. Wer hätte das erahnt?

Nicht zuletzt die akzentuierte Vorführung von Habermas macht deutlich, dass Höfers Buch mehr ist, als es zu sein scheint. Es ist ein Plädoyer für mehr Liberalität im Geiste und in diesem Sinne ein Versuch gegen eine angenommene linksintellektuelle Repressionspraxis anzuschreiben. Freigeister nach Belieben als "rechts" zu etikettieren und bei jeder Gelegenheit mit der allemal bereitliegenden Moralkeule zu verdreschen, ist eine nicht weiter widerspruchslos hinzunehmende Unerträglichkeit. Nicht der Wunsch die linke Hegemonie gegen eine rechte auszutauschen bewegt Höfer zu seinem Engagement, sondern der Zorn über jene säuerliche Unduldsamkeit, die sich mitunter in der Person des linksintellektuellen "Großinquisitors" Jürgen Habermas personifiziert. Skepsis gegenüber vorgekauten Wahrheiten sollte nicht gleich wie im Reflex als "gefährliches Denken" geahndet werden. Gut möglich, dass Höfer mit Martin Walser fühlt, der über sich (Höfer bringt das Zitat) sagte: "Ich habe keine Chance mehr, links zu sein oder zu gelten. Und rechts zu sein oder zu gelten, daran ist mir nicht gelegen. Ich habe mit diesen Adjektiven Schluss gemacht. Das sind Verblendungen, Attrappen, Verlogenheiten, moralische Anmaßungen."

Das Politikerranking - linker Hedonismus

Als exklusiver Stand werden in Höfers Buch die Politiker geführt. Ihrer dominanten Sonderstellung in der öffentlichen Wahrnehmung wegen, kann der Autor nicht umhin, sie dem allgemeinen Ranking zu entheben; sie bekommen eine eigene Liste, welche, entsprechend der linken Kulturhegemonie, ebenso - so scheint es doch - von Politikern der Linken dominiert ist. Eine Vorherrschaft, die sich, laut Höfer, seit Jahrzehnten über die Auflösung von bürgerlichkonservativen Sekundärtugenden wie Fleiß und Gewissenhaftigkeit beobachten lässt. Der heutige Kapitalismus fuße nicht mehr allein auf dem Boden der protestantischen Arbeitsethik, konstatierte der amerikanische Soziologe Daniel Bell schon in den 1960erjahren. Max Webers Kapitalismustheorie ist für Zwecke einer Gegenwartserklärung passee. Damit ist die Epoche einer neuen ökosozialen und postmateriellen Linken angebrochen, deren hedonistisches Lebensmotto "ficken, fressen, saufen" (Lafontaine) in der Spaßgesellschaft mehrheitsfähig ist. Der Linksruck in den vergangenen 40 Jahren sei massiv gewesen. Wahrnehmungsweisen und Lebensstile konstruieren sich über linke Begrifflichkeiten. Der schwelgerische und keineswegs mehr proletarische Genussstil der Salonmarxisten, in Frankreich "gauche caviar" genannt, weil sie zu Champagner und Kaviarbrötchen über das Elend in der Dritten Welt debattieren, ist nicht erst neuerdings aller Lebensethik letzter Schluss.

Die "Toskana-Fraktion"

Höfer unterstellt der Linken pharisäerhaftes Gehaben, wenn nicht gar eine sittliche Zerrüttung, die sich im Gestus als gutmenschlich und moralinsäuerlich inszeniert, aber gleichzeitig einem großbürgerlichen Lebensstil frönt, der es sich an nichts mehr fehlen lässt. Die sogenannte "Toskana-Fraktion", so Höfer, sieht sich im Besitz der richtigen Moral, steht stets auf der Seite der Armen und Geknechteten. Das hindert sie aber nicht daran, auch die schönen Seiten des Lebens zu genießen. Vorliebend in der norditalienischen Toskana, wo in den Achtzigerjahren die nun etablierten 68er Ferienhäuser erwarben. Die "Toskana-Fraktion" ahmt, nach Meinung Höfers, die klassische Boheme nach: Von den Tugenden der Konservativen ist sie gleich weit entfernt wie von der preußisch-protestantisch geprägten deutschen Sozialdemokratie und der piefigen Kleinbürgerlichkeit der SED. Zur echten Boheme, lästert Höfer, fehlt ihr allerdings alles: Exzesse, Tabubrüche, kulturelle Impulse.

Wer der rotgrünen "Toskana-Fraktion" in ihrem postmateriellen Streben nach vermeintlich klassischer, doch tatsächlich biederer Boheme die Gefolgschaft verwehre und sich stattdessen an des (nun wirklich) klassischen Sozialdemokraten Helmut Schmidt "Sekundärtugenden" - Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit und Standhaftigkeit - orientiere, muss mit dem Vorwurf rechnen, mit reaktionären Tugenden dieser Art "könne man auch ein KZ betreiben". Genau diese Ungeheuerlichkeit hat einst der jugendlich freche, doch zwischenzeitlich kaum geläuterte Oskar Lafontaine (Nr. 2, Politikerranking) dem früheren deutschen Kanzler Helmut Schmidt, ob dessen Tugendlehre, zum Vorwurf gemacht. In weiterer Folge reichte Lafontaine einen kontrastierenden Katalog antibürgerlicher Tugenden nach. Zentraler Bestandteil dieser antibürgerlichen Tugendlehre ist das "Recht auf Faulheit für alle, die heute Arbeit haben". Die Befreiung von Erwerbsarbeit müsse das Ziel sein. Und die Einführung einer Grundsicherung ist die logische Konsequenz aus dieser Zielsetzung. Höfer - offensichtlich kein Anhänger der lafontainschen Tugend- und Soziallehre - spricht in diesem Zusammenhang etwas abschätzig vom "Toskana-Prinzip", das jede Leistungsethik zwar von sich weise, aber doch der Konsummentalität nicht entsagen wolle. Und zum krönenden Abschluss auch noch eine antikapitalistische Sozialethik davon ableite, denn wer weniger arbeitet und faul ist, handelt nach Auffassung von Lafontaine solcherart bewusst sozial und verweigere sich löblichst der kapitalistischen Ausbeutung, ohne deswegen einer pfäffischen Askese anheim zufallen.

Leistungsverweigerung und wohllebender Müßiggang als adäquate Antwort auf vermeintlich (oder tatsächlich) inhumane Lebensverhältnisse? Ein Nonkonformismus wie die Made im Speck, da die Made alles Recht dieser Erde hat, während ihres kurzen Lebens den Speck zu genießen und nicht an dessen unermüdlichen Aufbereitung vor der Zeit vom Leben zu ermüden. Dass Höfer diese Spielart eines hedonistischen Antikapitalismus nicht wirklich goutiert, ist aus der stillen Empörung, die aus den Textzeilen grollt, und aus mancher unterschwellig rüberkommenden sarkastischen Anmerkung zu vernehmen. Einer offenen und allzu offensiven Kritik enthält sich der Autor allerdings. Diese wäre auch nicht Gegenstand seines Buches.

Joschka Fischer - Symbolfigur der 68er

Wie Höfer es aber auch immer insgeheim aufnehmen mag, die politische Linke dominiert das Politikerranking, denn als Nummer 1 thront niemand Geringerer als Joschka Fischer, die Symbolfigur der 68er, welcher die Grünen erfolgreich entideologisierte und Gedanken propagierte, die ihn nicht zu Unrecht zum populärsten deutschen Politiker machten. In seinem Buch zur Wahl 1998, "Der neue Gesellschaftsvertrag", lehnte Fischer alle Veränderungen in Richtung amerikanischen Marktliberalismus ab: "In Europa dominiert der Staat, in Amerika die Gesellschaft. Europas Grundprinzip ist die Ordnung, Amerikas die Freiheit." So soll es bleiben. Die neoliberalen Amerikafreunde aus der Wirtschaft seien, erkennt Fischer, die wahren Systemveränderer und "Revolutionäre". Rot-Grün sei demgegenüber der konservative Hort des "rheinischen Kapitalismus". - Ein Gedankengang, wie er der mitteleuropäischen Mentalität entspricht. Höfer widerspricht dem nicht und scheint angesichts Fischers erstaunlicher Lern- und Entwicklungsfähigkeit gegenüber dem früheren Anführer eines wilden Haufens gewaltversessener Politrocker (Frankfurter "Putzgruppe") versöhnlich gestimmt. Zu Fischers persönlichem Lebensstil kann sich der Autor jedoch die eine oder andere Spitze nicht verkneifen. Immerhin tauscht dieser Fischer so alle paar Jahre die zwischenzeitlich gealterte jeweilige Lebenspartnerin gegen eine jüngere aus. So viel zur linken Kritik am kapitalistisch vermittelten Warencharakter weiblicher Leiblichkeit.

Samuel P. Huntington - The Clash of Civilizations

Nicht zuletzt an der distanzierten und teils hämischen Betrachtung der dominierenden deutschen Linken erkennt man die Positionierung des Autors gegenüber dem Objekt seiner Betrachtung. Sein Bezug scheint alles Andere als von ungeteilter Sympathie getragen. Das Gegenteil scheint viel mehr der Fall zu sein. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird gezielt auf Schwächen und Lächerlichkeiten gelenkt. Hingegen die Würdigung eines Samuel P. Huntington (60), des Propheten des Kulturkampfes, bei Höfer mehr oder weniger als widerspruchslose Würdigung eines großen Denkers über die Bühne geht. Multikulturalismus sei gleichbedeutend mit einer Selbstaufgabe des Westens und wohl generell (Höfer schreibt das nicht so wortwörtlich, wie es hier steht) ein Symptom der Gegenaufklärung. Der Islam sei die größte Bedrohung, weil demografhisch von einem hohen Anteil der Altersgruppe der 15- bis 30-jährigen Männer getragen, die zu Hause keine Jobs finden, nach Europa ausweichen oder sich für den Kampf gegen Nichtmuslime rekrutieren lassen. Die Kulturen wachsen nicht friedlich zusammen, der Westen solle seine Prinzipien verteidigen, denn nach Huntington sei das Grundgesetz besser als die Scharia, der Minirock besser als die Burka, die Trennung von Staat und Kirche besser als das islamische Kalifat. Das 21. Jahrhundert werde das Zeitalter der Muslim-Kriege, was, so beklagt es Huntington, die amerikanischen Eliten, besonders in den Medien und in der Politik, noch nicht begriffen hätten. Vielleicht etwas simple Thesen zu einem hausgemachten Elend und den Folgen daraus, welche es verdienten auf ihren Plausibilitätsgehalt hinterfragt zu werden. Höfer leistet die Arbeit einer kritischen Hinterfragung jedoch nur sehr partiell bis gar nicht. Vielmehr sei der gegen die New Yorker Twin Towers geführte Anschlag vom 11. September 2001 eine grausame Bestätigung von Huntingtons Vorhersage vom kommenden "Zusammenprall der Kulturen". Sich in kritischer Distanz zu üben, bleibt somit dem mündigen Leser überlassen.

Milton Friedman - grenzenloses Vertrauen in die Marktkräfte

Auch die Besprechung von Milton Friedmans (59) Leben und Werk, der Abkömmling bessarabischer Einwanderer wird von Höfer als "der Fackelträger der Freiheit" geehrt, fällt gar sympathisch aus. Ohne viel Federlesen übernimmt Höfer die massive Staatskritik des neoliberalen Ökonomen jüdischer Herkunft, der aus Staatsfeindlichkeit die Abschaffung des Führerscheins, der staatlichen Schulpflicht und Regelung des Gesundheitswesens, aber auch die Freigabe von Drogen und der 
Abtreibung sowie (um staatliche Sozialbürokratie einzusparen) die Einführung einer Grundsicherung fordert und am Höhepunkt seiner ideologischen Staatsverneinung selbst am Anarchismus per se nichts Schlechtes erkennen kann. Das Porträt zu Milton Friedman endet mit einem - von Höfer unkommentiert belassenen - kräftigen Seitenhieb auf die Globalisierungsgegner von der Gruppe Attac: "Wer da demonstriert, sind nicht die Betroffenen, sondern hauptsächlich gut situierte Mittelklasse-Zöglinge, die sich amüsieren wollen und sich das leisten können. Das ist eine reine Spaßbewegung."

Ein gelehriges Buch für mündige Köpfe

Am Politischen scheiden sich die Geister. Habermas ist für Höfer der Quell linken Gesinnungsterrors, Oskar Lafontaine ist ein griesgrämiger Propagandist egoistischer Genusssucht, und das Politidol Joschka Fischer war lange Zeit Kopf einer Bande revolutionärer Gewalttäter, der sich nicht genierte in Westdeutschland einen verkappten Nazistaat zu sehen, gegen den mit Herbert Marcuse "die Gewalt der Befreiung" geboten war. Den Vorkämpfer wirtschaftsliberaler Staatsverachtung, Milton Friedman, charakterisiert Höfer hingegen als "Fackelträger der Freiheit", Huntington steht ihm für eine realistische Weltsicht, die sich nicht in multikulturelle Illusionen flüchtet, Guido Westerwelle (Nr. 7, Politikerranking) erkennt er als "smarten Liberalen", und den Ex-CDU-Generalsekretär Heiner Geißler (Nr. 9, Politikerranking) als streitbaren Linkskatholiken, der über die Frage "Was würde Jesus heute sagen?" zu dem Schluss kommt, der Gottessohn wäre heute für freien Haschkonsum, würde Prostitution erlauben und hätte auch nichts gegen Homosexualität einzuwenden. Wiederholt charakterisiert Höfer bürgerliche Denker als generös und besonnen, Linke und Avantgardisten hingegen als zweifelhafte Glücksritter und Spinner. Wofür sich einzelne - in der Tat doch nichts als launische - Zitate trefflich eignen, etwa die kühnen Assoziationen des Komponisten Karlheinz Stockhausen (27) nach dem Anschlag vom 11. September 2001 in New York: "Was da geschehen ist, ist - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat. Dass Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch, für ein Konzert und dann sterben: Das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, als Komponisten."
Textstellen wie diese rücken den sowieso längst schon anrüchig gewordenen und nie so recht beim Publikum akzeptierten Kunstbegriff der Avantgarde in die Nähe radikaler Gewaltfantasien und rechtfertigen jede Rückbesinnung auf die harmonische Dur-Moll-Tonalität der bürgerlichen Musikkultur. In der Konsequenz muss es dann lauten: Man verabschiede sich von der postmodernen Lässigkeit und bemühe sich wieder um die Herausbildung der gefälligen Form klassischen Zuschnitts.

Trotz des nicht zu verschweigenden Kritikpunktes von wegen einer wahrlich nicht immer zutreffenden Ausgewogenheit bei der Skizierung der Porträtierten - wie gesagt, der Autor verleugnet seine liberalbürgerliche Gesinnung nicht - darf das besprochene Buch doch, allein schon in Hinblick auf die mit Gespür für das Interessante und Wesentliche ausgewählte Informationsfülle, uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen werden. Es vermittelt einen fundierten, kritischen, überhaupt nicht devoten und deswegen überaus vergnüglichen Überblick und Einblick in das Denken und Leben der Eliten aus Literatur, Wirtschaft, Kunstschaffen, Theologie, Wissenschaft und Politik und zeigt folglich aus welchen Quellen sich jener öffentliche Diskurs speist, der letztlich über mediale Vermittlung die Weltsicht des mündigen Bürgers mitprägt. Und nach welchen Gesetzmäßigkeiten öffentliches Denken funktioniert. Zwar scheinen - wie schon eingewendet - Höfers Wertungen nicht immer gerecht, sondern im Einzelfall tendenziös, hantig, weil zornig gegenüber jeglichem widerfreiheitlichen Korrektheitsdiktat, aber liegt denn nicht auch in dieser selbstbewussten Manifestation persönlicher Haltung ein nicht nur unterhaltsamer, sondern zum eigenständigen Weiterdenken aufreizender Impuls? Nichts wäre jedenfalls der Sache abträglicher als ein knochentrockenes Paradieren bloß lexikalisch dargelegten Faktenwissens. Seriöse Zurückhaltung kann mehr verschleiern als ihr lieb sein sollte und ist oft nicht viel mehr als der Beweis einer knechtischen Mentalität im Verhältnis zu den Autoritäten einer hierarchisch geschichteten Ordnung öffentlichen Denkens. Und der mittlerweile zum Citoyen gereifte Leser wird wohl für den Umgang mit subjektiven Standpunkten schon mündig genug sein. Immerhin schreiben wir heute das 21. Jahrhundert! Das eigene Kritikvermögen nach bestem Wissen und Gewissen zu nutzen, das darf in längst aufgeklärten und bald schon abgeklärten Zeiten wohl jedem Mann und jeder Frau zugemutet sein.

(Harald Schulz; 05/2005)


Max A. Höfer: "Meinungsführer, Denker, Visionäre"
Eichborn, 2005. 367 Seiten.
ISBN 3-8218-3982-1.
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Der Wirtschaftswissenschaftler und Politologe Max A. Höfer wurde 1959 in Stuttgart geboren.