Manfred Flügge: "Heinrich Mann"

Eine Biografie


Ein Unerbittlicher

Das Schicksal, der ewige Bruder von jemand Bekannterem zu sein - welch äußerst undemokratische Existenzvariante war das für Heinrich Mann (1871-1950). Kein Qualitätsurteil führt an Thomas Mann vorbei - zweifelsohne - aber den Heinrich Mann zu unterschätzen wäre literaturgeschichtlich höchst fahrlässig. Und hätte er nur "Der Untertan" geschrieben, es wäre genug zu würdigen bezüglich seiner Parodie des aufklärerisch-klassischen Entwicklungsromans und der Zusammenführung dessen mit dem Zeit- bzw. Gesellschaftsroman. Also ein Autor mit einem Werk, worin wir einen locus classicus erkennen könnten: die Erlösung des Idealismus vom Materialismus durch die Parodie!

Wir verdanken Thomas Mann die Perpetuierung des klassischen Niveaus in der Moderne und etliche intellektuelle Kabinettstückchen - zweifelsohne und mit allem literaturwissenschaftlichem Ernst anerkannt - denn am "Zauberberg" führt kein Weg vorbei - aber Bruder Heinrich hat mit einem Geniestreich den Bruch in der deutschen Literaturgeschichte markiert. In gewisser Weise ist der "Untertan" der "Don Quichotte" des 20. Jahrhunderts in pervertierter Manier. Hier manifestiert sich die konsequente Demaskierung des analen Charakters. Hier feiert sich die Satire als Offenbarungseid der Epoche sowohl als auch der Menschheitsgeschichte. Eine vergleichbare polit-literarische Leistung gelang Thomas Mann nur mit seiner Novelle "Mario und der Zauberer".

Was die hier vorgelegte Biografie hoffentlich mit zu bewirken vermag, ist die faire Positionierung Heinrich Manns ohne Rücksicht auf seinen großartigen Bruder. Basierend auf neu zugänglichen Dokumenten aus Moskau, FBI-Akten, deutschen und französischen Archiven sowie bisher unbekannten Privatbriefen kann Flügge Ergänzendes und Erhellendes über Heinrich Manns Leben im Exil, sein Verhältnis zur Sowjetunion, seine beiden Ehen und einige Liebschaften präsentieren. Für Flügge gehört Heinrich Mann zu den "suggestivsten Autorenpersönlichkeiten Deutschlands nach 1900". Ein Freidenker, Sympathisant des Weltkommunismus und Kämpfer gegen das NS-Regime. Vielleicht überraschend und unter Berufung auf seinen Neffen Golo Mann wird Heinrich Mann hier als Idealist und Träumer charakterisiert: "der allerletzte Romantiker, ein in das 20. Jahrhundert verirrter Taugenichts".

Geschrieben hat Heinrich Mann seit seinem 15. Lebensjahr, mit 20 wurde er in Berlin Mitglied im "Verein Freie Bühne". Ab dem 21. Lebensjahr war er lungenkrank, was ihn zu einer Bemerkung reizte: kein bedeutender Autor sei wirklich gesund gewesen. Von Anfang an orientierte er sich an den französischen Symbolisten, den Naturalismus lehnte er als nichtschöpferisch ab. Ein dunkler Fleck auf seiner Vita ist wohl sein anfänglicher Antisemitismus. Jedenfalls fand er schon in jungen Jahren Abnehmer für seine Kritiken und Essays und ebenso einen Verleger für die ersten Romane. Von Anfang an übte Bruder Thomas Kritik an Heinrichs Themen und Sprache. Allerdings schätzte er die Qualität von "Professor Unrat" völlig falsch ein. Der Essay "Geist und Tat" von 1911 kann als entscheidendes politisches Dokument Heinrich Manns gelesen werden. Mit seinem Roman "Der Untertan" (1914) hatte er eigentlich bereits den Höhepunkt seines Romanschaffens erreicht. Damit dokumentiert sich auch sein Bewusstseinswandel zum linksliberalen Idealismus. Der Bruderzwist aus psychologischen und ästhetischen Beweggründen hatte z.B. die Anekdote zur Folge, dass Heinrich Mann zu seinem 50. Geburtstag zahlreiche Glückwünsche erhielt - nur von Bruder Thomas nicht.

Heinrich Mann hat Literatur als "Gewissen der Zeit (...) niemals nur (als) Kunst" verstanden. Der Feuerspruch bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Berlin "Gegen Dekadenz und moralischen Zerfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner!" erreicht Heinrich Mann im französischen Exil in Nizza. Hier gehörte er zu den maßgeblichen Protagonisten der sogenannten Volksfront, dem Aktionsbündnis der linken und liberalen Kräfte der Emigration. Mit Johannes R. Becher verband ihn eine Hassliebe - Moskau versuchte die Emigranten als kommunistische Sympathisanten zu gewinnen. Heinrich Mann bekennt sich bereits 1935 zur Sowjetunion, die er anfangs gar als Erbin der Französischen Revolution pries. Der junge Willy Brandt hatte schon 1938 den Eindruck, Heinrich Mann lasse sich von Moskau missbrauchen. Immerhin wurden seine Bücher in der Sowjetunion zahlreich verlegt und gelesen.

Flügge macht Heinrich Mann eigentlich zum Vorwurf, dass er zu gutgläubig gewesen sei, wenn er etwa 1939 meinte: "Das Dritte Reich ... hat die Deutschen reif gemacht für die Revolution". Und Flügge vermutet, dass Heinrich Mann eigentlich nur schrieb, "um sich der Wirklichkeit zu erwehren, nicht um sich ihr anzunähern." Seinen 70. Geburtstag feierte er in Hollywood, es wurde eine "tragikomische Selbstfeier der Emigration" (vgl. Salka Viertels Memoiren). Zum 75. Geburtstag erhielt Heinrich Mann ein in schwarzes Leder gebundenes Heft mit handschriftlichen Widmungen und Dankesbriefen u.a. von Bloch, Brecht, Feuchtwanger, Herzfelde - in Mexiko fanden sogar öffentliche Feiern statt. Allerdings stand er in Amerika unter FBI-Überwachung: "Zynisch gesprochen lieferte das FBI eine gute Ergänzung der Quellenlage, denn das Material ist dank des Freedom-of Information-Act der Nachwelt zugänglich" - Heinrich Mann hatte es auf die "National Censorship Watchlist" geschafft.

Im Jahr 1946 erhält Heinrich Mann die offizielle Einladung von der SED: "lieber Freund und Kampfgefährte". Er zögert lange - bis schließlich 1961 seine Urne auf den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin überführt wurde. Heinrich Mann hat es mit Italien aufgenommen, mit Frankreich, mit der Sowjetunion, mit der USA, mit Deutschland - nach Flügge war er nur gut in der Opposition, tief in ihm habe aber das Bedürfnis nach Harmonie gewirkt: "Von der Fremde angezogen, konnte er nie bei sich selber ankommen." Er war sehnsüchtig und selbstentfremdet zugleich, sein Idealismus musste grotesk scheitern. Seine Irrtümer waren subjektiv notwendig, um nun objektiv die historischen Koordinaten sämtlicher Ideologiespasmen konsequenter einordnen zu können. Flügges Buch löst nicht alle Akzeptanzprobleme mit Heinrich Mann - aber es stellt unzählige Wege und Varianten zur Verfügung, diesen Unerbittlichen im Dschungel der Weltanschauungen verstehen zu lernen.

(KS; 03/2006)


Manfred Flügge: "Heinrich Mann"
Rowohlt Reinbek, 2006. 511 Seiten.
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Weitere Buchtipps:

Heinrich Mann: "Der Untertan"
Erstaunlich ist die Entstehungszeit des Romans (1906-1914): Die Krankengeschichte des Hohenzollern-Reiches ist also - was wesentlich leichter nachvollziehbar gewesen wäre - kein Obduktionsbericht, sie wurde verfasst, als der Patient sich dem Anschein nach bei bester Gesundheit befand. Nur, der diagnostische Blick Heinrich Manns reichte tiefer. Heinrich Manns "Untertan" ist der große satirische Gesellschafts- und Zeitroman in deutscher Sprache. Bis heute sind Heinrich Manns Befunde, wenn es um das Wesen des deutschen Spießers geht, nicht überholt.
Zuerst ließ Heinrich Mann diesen Roman in Fortsetzungen in einer Kulturzeitschrift erscheinen. Bei Ausbruch des
Ersten Weltkriegs wurde der Vorabdruck abgebrochen. Zur ersten Buchausgabe schrieb Kurt Tucholsky: "Dieses Buch Heinrich Manns, heute, gottseidank, in aller Hände, ist das Herbarium des deutschen Mannes. Hier ist er ganz: in seiner Sucht zu befehlen und zu gehorchen, in seiner Rohheit und in seiner Religiosität, in seiner Erfolgsanbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit. Leider: es ist der deutsche Mann schlechthin gewesen; wer anders war, hatte nichts zu sagen, hieß Vaterlandsverräter und war kaiserlicherseits angewiesen, den Staub des Landes von den Pantoffeln zu schütteln. (...) Ein Stück Lebensgeschichte eines Deutschen wird aufgerollt:
Diederich Heßling, Sohn eines kleinen Papierfabrikanten, wächst auf, studiert und geht zu den Korpsstudenten, dient und geht zu den Drückebergern, macht seinen Doktor, übernimmt die väterliche Fabrik, heiratet reich und zeugt Kinder. Aber das ist nicht nur Diederich Heßling oder ein Typ. Das ist der Kaiser, wie er leibte und lebte. Das ist die Inkarnation des deutschen Machtgedankens da ist einer der kleinen Könige, wie sie zu Hunderten und Tausenden in Deutschland lebten und leben, getreu dem kaiserlichen Vorbild, ganze Herrscherchen und ganze Untertanen. (...) Denn diese beiden Charaktereigenschaften sind an Heßling, sind am Deutschen auf das subtilste ausgebildet: sklavisches Unterordnungsgefühl und sklavisches Herrschaftsgelüst." (1919)
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Heinrich Mann: "Die Armen"
Bei dem Roman "Die Armen" handelt es sich um die unmittelbare Fortsetzung des "Untertan". Im "Untertan" beschreibt Heinrich Mann den Werdegang von Diederich Heßling als typischem Vertreter der Bürgerwelt im Kaiserreich. Zum Teil mit demselben Personal schildert Heinrich Mann jetzt die Heßling-Welt aus der Sicht des Proletariats, das den durch Lug, Trug, Raffgier und vor allem durch Ausbeutung der Arbeiter in der Papierfabrik erwirtschafteten Wohlstand des mittlerweile Geheimen Kommerzienrats Heßling erst möglich macht. Rudolf Leonhard schrieb 1917 beim Erscheinen der Erstausgabe im Berliner Börsen-Courier: "Dieser Roman ist die stärkste Konzentration der Gegenwart; für spätere Historiker das sicherste Dokument einer Epoche, die für Deutschland die wilhelminische heißen wird. Hier hat sie, die noch besteht, einen Spiegel. Und der Spiegel zeigt nicht nur, sondern urteilt. (...) Wir jungen Leser aber hören die Zukunft aus diesem Buche, alles, was wir wollen. Einzelnes sogar wie der Zusammenschluss der geistigen und der proletarischen Jugend - bei Heinrich Mann steht es immer schon." Hermann Hesse meinte: "Eine Räubergeschichte, mit der alten konstruktiven Kraft Manns aufgebaut, an vielen Stellen von seinem atemlosen Temperament beflügelt, da und dort gespenstisch beleuchtet von seiner alten wilden Freude an der Karikatur."
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Heinrich Mann: "Professor Unrat"
Der vorliegende Roman gilt neben Heinrich Manns Werk "Die kleine Stadt" als eine der besten Schöpfungen aus der Frühzeit des Dichters. Er erschien erstmalig im Jahre 1905 und schildert die makabre Geschichte eines professoralen Gymnasiastenschrecks, einer Spießerexistenz, die in später Leidenschaft einer Kleinstadtkurtisane verfällt und aus den gewohnten bürgerlichen Bahnen entgleist. Mit diesem Roman, dessen Verfilmung mit Emil Jannings und Marlene Dietrich unter dem Titel "Der blaue Engel" zu einem der wenigen wirklichen Welterfolge des deutschen Films wurde, gelang Heinrich Mann eine meisterhafte Karikatur der Wilhelminischen Zeit.
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Heinrich Mann: "Die kleine Stadt"
"Die kleine Stadt" liegt in Italien. Alles beginnt mit dem Erscheinen einer Theatertruppe in der kleinen Stadt. "Unsere Ankunft", so der jugendliche Held und Liebhaber der Truppe, "hat belebend gewirkt auf die Einwohner dieser Stadt, auf einmal ist ihnen der Mut gekommen, ihre Laster in Freiheit zu setzen". Es beginnt ein Fastnachtstreiben, ein Liebes- und Rüpelspiel, heiter und böse, zart und leidenschaftlich. In seltsamen, manchmal gespenstischen Reigen verbinden sich die Schicksale der fahrenden Künstler und der Kleinbürger - Kunst und Leben, das große literarische Thema der Jahrhundertwende klingt an. "Die kleine Stadt" ist ein utopischer Gegenentwurf zur politisch unmündigen Gesellschaft der Wilhelminischen Ära. "Was hier klingt", schrieb Heinrich Mann zu diesem Roman, "ist das hohe Lied der Demokratie. Es ist da, um zu wirken in einem Deutschland, das ihr endlich zustrebt. Dieser Roman, so weitab er zu spielen scheint, ist im höchsten Sinn aktuell."
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