Wladimir Makanin: "Der kaukasische Gefangene"

Drei Erzählungen


Der 1937 in Orsk geborene Wladimir Makanin war Mathematiker und Filmemacher, bevor er 1965 als Schriftsteller in Erscheinung trat. Im Jahr 2003 erschien sein Roman "Underground oder Ein Held unserer Zeit" auf Deutsch.

Das Individuum und sein Verhältnis zur Gemeinschaft

Der Band "Der kaukasische Gefangene"  ("Kawkaski plennyi") beinhaltet neben der titelgebenden Erzählung zwei weitere: "Der Buchstabe A" ("Bukva A") und "Eine geglückte Liebesgeschichte" ("Udawschijsja rasskas o ljubvi").

In "Der kaukasische Gefangene" werden Männlichkeitsmythen beleuchtet bzw. hinterfragt; die Erzählung spielt im Soldatenmilieu. Der Krisenherd Kaukasus, Projektionsfläche für allerlei Vorstellungen von Freiheit, Patriotismus und Autonomie, wo Welten aufeinanderprallen, durch tschetschenische Kriege immer wieder in den Medien präsent, liefert die eindrucksvolle Kulisse für die Erzählung.
Zwei russische Soldaten, Schütze Wowka und Rubachin, schlagen sich manchmal getrennt, manchmal vereint durch den eintönigen, nichtsdestoweniger zermürbenden Soldatenalltag in der Konfliktregion. Gefahr und allgegenwärtiger Tod, Beschaffung von Waffen, Alkohol und Nahrung sowie gelegentliche flüchtige Liebschaften prägen das Dasein.
Eines Tages ergreifen die beiden einen ausnehmend schönen Rebellen, dessen Gegenwart in Rubachin bislang ungeahnte Gefühle aufkeimen lässt. Der widerstrebend über seine sexuelle Orientierung grübelnde Soldat, dessen irrlichternde Gedanken Makanin virtuos einfängt, schenkt dem Gefangenen zwar verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit, doch als die Lage brenzlig wird, erwürgt Rubachin den Jüngling ohne zu zögern.

"Der Buchstabe A" behandelt den Lageralltag, die zunächst kaum merklichen Veränderungen desselben im Großen wie im Kleinen. Im Straflager vollzieht sich gewissermaßen ebenjener Umbruch, der auch außerhalb stattfindet und schließlich zum Zerfall der Sowjetunion führt. Willensstarke Häftlinge, die unter entsetzlichen Strapazen, mit dem Mut der Verzweiflung und unter Lebensgefahr ein "A" in den Fels geschlagen haben, erkämpfen sich Zug um Zug und um den Preis vieler Opfer mehr Rechte, rebellieren, die Grundlage der Macht ihrer Bewacher schwindet zusehends. Doch schlagartig gerät alles außer Kontrolle; Chaos bricht aus, und die bestürzenden Ereignisse gipfeln in einer Exkrementeorgie ...

"Eine geglückte Liebesgeschichte" schließlich berichtet in Rückblenden (die Figuren zwängen sich in einen sogenannten "Engpass" und werden an irgendeinen Zeitpunkt in der Vergangenheit gezogen) von der Zeit vor der Perestroika. Hauptthema sind die Reste der Beziehung des mittlerweile ausgebrannten Schriftstellers Tartassow mit seiner einstigen Geliebten, der ehemaligen Zensorin Larissa Igorjewna, die nunmehr ein biederes Freudenhaus (Motto: "Alles wie daheim") bewirtschaftet. Beide gehören zu den Reformverlierern, denen die Gegenwart kaum noch Erbauliches zu bieten hat.
Tartassow ist als Moderator einer unbedeutenden Fernsehsendung tätig, was er allein der Opferbereitschaft Larissas zu verdanken hätte, wenn er es nur wüsste. Jede Figur verbirgt Geheimnisse, was sie alle verbindet, ist Resignation. Und während der mittellose Tartassow versucht, den Mädchen eine "Gratisnummer" abzuschwatzen, sieht sich Larissa plötzlich wieder Wjuschin gegenüber, jenem Mann, dem sie sich einst hingeben musste, um ihrem damaligen Geliebten den Posten beim Fernsehsender zu sichern ...

Wladimir Makanin beschreibt als tiefgründig menschlicher, respektvoller, mitunter ironischer Beobachter in gestraffter Form und kühlem Stil, der stets sozusagen mit beiden Füßen auf der Erde bleibt, soziale Verhältnisse und Veränderungen sowie psychische Vorgänge in seinen und um seine Protagonisten, wobei der Autor ein Faible für offene Enden erkennen lässt. Man begleitet die Charaktere ein Stück ihres Weges, lernt deren Gedankenwelt und Umfeld kennen und erhält Einblicke in unterschiedliche Gesellschaftsschichten wie auch zwischenmenschliche Beziehungsstrukturen. Der Frage nach individueller Freiheit im Spannungsfeld zwischen Macht und Unterdrückung kommt durchgehend zentrale Bedeutung zu.

(Felix Grabuschnig; 03/2005)


Wladimir Makanin: "Der kaukasische Gefangene"
(Originaltitel "Kawkaski plennyi")
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke.
Luchterhand, 2005. 240 Seiten.
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Zwei weitere Bücher des Autors:

"Der Schreck des Satyr beim Anblick der Nymphe"

In Sommernächten, wenn Vollmond herrscht, wandert der alt gewordene Pjotr Petrowitsch durch seine Datschensiedlung und beglückt die jungen Frauen der Nachbarschaft. Er dringt über die Veranda ins Schlafzimmer ein, setzt sich auf die Bettkante, betrachtet eine Weile verzückt die Schönheit der Schlafenden und versucht anschließend, ans Ziel seiner Träume zu gelangen. Was ihm erstaunlicherweise manchmal tatsächlich gelingt.
Doch meist nehmen diese nächtlichen Abenteuer eine böse Wendung. Einmal wird Petrowitsch vom Ehemann verprügelt oder von einer Frau im reiferen Alter, zu der er sich verirrt hat, mit Schlaftabletten außer Gefecht gesetzt, einmal landet er in der Psychiatrie. Doch die jungen Schönen sind Petrowitsch nicht wirklich böse, man kennt ihn ja im ganzen Dorf als "Schlafwandler", manchmal laden sie ihn später gar auf ein nachgeholtes Schäferstündchen ein. Nur die schöne blonde Dascha hat etwas gänzlich Anderes mit Pjotr vor. Denn Dascha fühlt sich in ihrer Luxusdatscha wie im Gefängnis. Sie schnappt sich Petrowitsch und fährt mit ihm nach Moskau geradewegs zum Weißen Haus. Dort herrscht der Kampf zwischen Präsident Jelzin und dem Parlament, die Panzer sind bereits aufgefahren. Petrowitsch geht verloren im Getümmel, doch als er plötzlich nackt im Scheinwerferlicht steht, verstehen das die Truppen als Zeichen der Kapitulation; und der Johannistrieb triumphiert durch seine befriedende Macht. (Luchterhand)
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