Ernst Lothar: "Der Engel mit der Posaune"


"Der Engel mit der Posaune" ist ein wahnsinnig interessanter Roman, allerdings mit einer für uns moderne Menschen des 21. Jahrhunderts mitunter doch etwas gewöhnungsbedürftigen Sprache, die aber gerade dem Werk Leben einhaucht.

Der Roman umspannt 50 Jahre, vor der Wende ins 20. Jahrhundert bis hin zum Einmarsch Hitlers in Wien, und erzählt dabei die Familiengeschichte der Klavierfabrikanten Franz und Hans Alt. Durch diese Familiensaga führt jedoch als Hauptperson die Ehefrau von Franz, Henriette Alt, geborene Stein, beginnend mit ihrer Heirat, hin bis zu ihrem Tod. Um ihr Leben windet sich die Geschichte ihrer Verwandten und Kinder, die alle im Haus der Familie, in der Seilerstätte 10, leben. Über dem Eingang des Hauses ist ein Engel, der auf einer Posaune bläst, angebracht. Dieser verleiht dem Roman den Titel.

Der Autor beschreibt nicht nur die Geschichte der Familie, sondern setzt diese vor den Hintergrund der damaligen Historie. Der Leser erfährt so die Lebensumstände und Gefühle der Handelnden, ausgelöst durch die Ereignisse der Zeit, über den Ersten, später auch den Zweiten Weltkrieg, den Untergang des Kaiserreiches Österreich, die aufkommende Demokratie, die von Hitler und seinen Schergen abgelöst wird, und über den Beginn der Judenverfolgung in Wien. Alles, was geschieht, betrifft auch die Patrizierfamilie Alt. An der Lebendigkeit des Erzählten ist wohl zu erkennen, dass Lothar Zeitzeuge ist.

Das Haus, in dem sich alles abspielt, scheint zu existieren, sogar einen Schreibwarenladen gibt es an der Ecke Seilerstätte/Annagasse, ebenso das Gymnasium in der Hegelgasse, wo der Sohn Hans in die Schule geht. Dem Autor gelingt es, die Wirklichkeiten der Stadt Wien und seine erfundenen, in der Geschichte mitwirkenden Personen so miteinander zu verquicken, dass ich beim Lesen oft alles lebendig vor mir sah. Die einzelnen Personen wanderten vor dem Hintergrund der mir so bekannten Wiener Innenstadt und spielten ihre Geschichte vor meinen Augen. Ob nun auf der Seilerstätte, im Burgtheater, in der Klavierfabrik Bösendorfer, im IV. Bezirk (die Fabrik "Alt" liegt ebenfalls im IV. Bez.), in der Klosterkirche der Salesianerkloster am Rennweg oder im Prater; alles ist im Roman zum Greifen nahe.

Alles in allem: Wer eine gute Geschichte, verpackt in eine wohlgeformte, musikalische Sprache liebt, sollte sich dieses Buch unbedingt holen.

(Ingrid; 02/2004)


Ernst Lothar: "Der Engel mit der Posaune"
dtv, 2003. 640 Seiten.
ISBN 3-423-20674-8.
ca. EUR 12,-. Buch bestellen

Ernst Lothar, eigentlich Ernst Lothar Müller, wurde 1890 als Sohn eines Rechtsanwalts in Brünn geboren und war schon 1908 als Autor bekannt. Er arbeitete als Staatsanwalt und als Hofrat im Handelsministerium in Wien, bevor er ab 1925 Theaterkritiker, Regisseur und schließlich Direktor des Theaters in der Josefstadt wurde. 1938 emigrierte er nach Amerika, wo er Universitätsprofessor der vergleichenden Literatur war. Nach seiner Rückkehr 1948 arbeitete er Regisseur am Burgtheater in Wien und bei den Salzburger Festspielen.
Lothar verfasste Lyrikbände, wie "Der ruhige Hain" und "Die Rast", ebenso Novellen wie "Die Einsamen", "Triumph des Gefühls" und andere. Beispiele seiner Romane sind "Der Feldherr", "Macht über alle Menschen" und "Die Mühle der Gerechtigkeit" (in Hollywood als "A Case of Murder" verfilmt), "Unter anderer Sonne", "Die Zeugin", "Heldenplatz" (ebenfalls erfolgreich verfilmt). "Der Engel mit der Posaune" erschien erstmals 1944 in New York in englischer Sprache, 1946 im deutschen Original.

Ein Blick zurück ins Jahr 1950:
"21.10.1950: Am 25. Oktober vollendet der Schriftsteller und Regisseur Hofrat Professor Dr. Ernst Lothar, sein 60. Lebensjahr.
Lothar, dessen eigentlicher Name Lothar Ernst Müller ist, wurde in Brünn geboren und trat nach Beendigung der rechtswissenschaftlichen Studien an der Wiener Universität in den Staatsdienst. Er wirkte zunächst bei Gericht und später als Präsidialchef im Handelsministerium. Nach seiner Pensionierung übernahm er die literarische Redaktion der "Neuen Freien Presse" und war Gastregisseur verschiedener Wiener Theater. Am Burgtheater trat er mit Inszenierungen der Grillparzerdramen "Ein Bruderzwist im Hause Habsburg" und "König Ottokars Glück und Ende" hervor. 1936 wurde er als Nachfolger Max Reinhardts Direktor des Theaters in der Josefstadt und ging 1938 nach Amerika, wo er sich als Schriftsteller und Lehrer betätigte. 1948 kehrte er nach Wien zurück und nahm seine frühere Beschäftigung als freier Schriftsteller und Regisseur wieder auf. Großen Erfolg hatte er u. a. als Autor vielgelesener Romane, z. B. "Der Feldherr", "Macht über alle Menschen", "Heldenplatz" und "Der Engel mit der Posaune".
Ernst Lothar war mit der Schauspielerin Adrienne Gessner verheiratet und starb am 30. Oktober 1074 in Wien.

(Quelle: http://www.wien.gv.at/ma53/45jahre/1950/1050.htm)

 

Ergänzende Buchtipps: 

"Das Wunder des Überlebens. Erinnerungen"
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"Romanze F-Dur. Aus dem Tagebuch eines jungen Mädchens"
In diesem "Tagebuch eines jungen Mädchens" gelingt es Ernst Lothar, die großen und kleinen Ereignisse im Seelenleben eines jungen Menschen mit außergewöhnlicher Innigkeit nachzuempfinden und darzustellen. In der Zeit verhältnismäßiger Sicherheit zwischen den Weltkriegen erlebt ein 15jähriges Mädchen ein Schicksal, an dem es über sich und die bürgerliche Welt hinauswächst.

"Kleine Freundin. Roman einer Zwölfjährigen"
Dieses in sieben Sprachen übersetzte und von Berthold Viertel verfilmte Buch wurde von der Presse des In- und Auslandes mit einhelliger Zustimmung aufgenommen: Ernst Lothar, der Dichter der Gerechtigkeit, ist auch ein Dichter der Kinderseele. Ihm geht es darum, sie vor nicht gutzumachender Schädigung zu bewahren und das Problem verlogener Kindererziehung schonungslos aufzurollen. Sein "Roman einer Zwölfjährigen" ist ein bleibendes Beispiel dafür.
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