Leseprobe:

  Auf dem Korridor komme ich an Angelo vorüber, der Säcke mit Schmutzwäsche schleppt. Wir lächeln uns an. Ich öffne die Tür zum Zimmer 223, und auf den ersten Blick sehe ich sofort: Hier wohnen

Junge Amerikaner

Keine von uns schließt gerne ein Zimmer auf, in dem junge Amerikaner wohnen. Das sind keine Vorurteile. Wir haben nichts gegen Amerika, wir bewundern das Land sogar und haben Sehnsucht danach, obwohl viele von uns es noch gar nicht kennen. Aber die jungen Amerikaner, die sich im Hotel 'Capital' aufhalten, richten ein gedankenloses, dummes Durcheinander an, ein Durcheinander, in dem nichts einen Sinn oder irgendeine Bedeutung hat.
   Es ist kein rechtschaffenes Durcheinander, denn das Aufräumen verschafft keinerlei Genugtuung. Man kann es eigentlich gar nicht aufräumen - selbst wenn man alles ordentlich der Reihe nach aufstellt, wenn man die Flecken wegwischt und die Schmutzspuren beseitigt, wenn man alle Fältchen auf dem Überwurf und den Kopfkissen glättet und die zusammengeballten Gerüche mit frischem Wind vertreibt, verschwindet das Durcheinander nur für kurze Zeit, es verkriecht sich unter eine Decke und wartet da auf die Rückkehr seiner Besitzer. Sobald der Schlüssel im Schloss knirscht, wacht es auf und macht sich sofort wieder über das ganze Zimmer her.
   Ein solches Durcheinander können nur Kinder anrichten: eine halb geschälte Apfelsine auf dem Bett, Zahnputzbecher voller Saft, eine plattgetretene Tube mit Zahnpasta auf dem Teppich. Papierschnipsel, die wie eine Sammlung ausgelegt sind, die Preisschildchen von Kleidung aus den besten Geschäften, in den Kleiderschrank gestopfte Kopfkissen, ein zerbrochener Hotelbleistift, auf den Sesseln verstreute Unterwäsche, adressierte Postkarten ohne Text. Der Fernseher läuft, die Gardinen sind zugezogen, an der Klimaanlage hängen Unterhosen zum Trocknen, überall liegen Zigaretten, im Aschenbecher häufen sich Melonenkerne.
   Das Zimmer, in dem die Amerikaner wohnen, ist verspottet, seines Ernstes beraubt, gönnerhaft zum Scheinfreund gemacht. Ausgerechnet die hübsche, ganz in rosa und beige gehaltene Nummer 223 wird auf diese Weise profanisiert. Das Zimmer sieht aus wie ein ernster älterer Herr, der sich als Hampelmann verkleidet hat.
   Wenn ich hereinkomme, tut es mir schon weh. Ich bleibe eine Zeitlang reglos stehen und schätze das Ausmaß der Verwüstung ab. Das Zimmer sieht aus wie ein kleines Schlachtfeld. Teure Seidenkleider sind achtlos über die Sessellehnen geworfen, der Geruch nach Luxusparfum, Sorglosigkeit, Reichtum und Körperkraft, der Geruch der U-Bahnlinie achtundneunzig und der völligen Missachtung der Ordnung, die ein integraler Bestandteil der Dinge ist. Diese ganze nervöse Aktivität, die fehlende Wahrnehmung der Gegenwart und das mangelnde Verständnis dafür, dass sie ja der Keim der Zukunft ist - das alles ruft in mir Furcht wach. Das ist eine Seite in diesem Kampf. Auf der anderen Seite ist das stabile, konkrete, gegenwärtige und unveränderliche Zimmer 223. Und ich bin auf der Seite des Zimmers.
   Langsam und systematisch mache ich mich daran, die Sachen aufzuräumen, aber private Dinge rühre ich nicht an. Vielleicht sind sie schon daran gewöhnt, nicht an ihrem Platz zu sein.
   Die Zeit vergeht hier in großen Sprüngen, und ich werde immer unruhiger. Der Fernseher dröhnt, der Sender CNN überschwemmt mich mit Nachrichten aus der dröhnenden Welt, und die Welt versichert dem Sender CNN, dass sie irgendwo dort draußen existiert und immer voller junger Amerikaner ist. Meine Unruhe wächst, meine Gebärden werden energisch und ermüdend, ich fange an, mich zu beeilen, beginne auf die Uhr zu schauen, den Augenblick 'jetzt' zu verlassen und einen Fuß schon in den Augenblick 'danach' zu setzen. "Shit!" fluche ich vor mich hin. Ich singe Yankee Doodle Went to Town ... Ich lasse den feuchten Wischlappen auf der hölzernen Tischplatte liegen. Das ist sehr nachlässig, und das Holz verfärbt sich von der Feuchtigkeit. Die Stimmung im Zimmer wirkt ansteckend. Ich muss ins Badezimmer fliehen, wo das Durcheinander nicht so spürbar ist. Als ich langsam die verstreuten Handtücher, Schwämme, Seifenstücke und Fläschchen eingesammelt habe, als ich die Badezimmertüre schließen und mich auf die Einzelheiten konzentrieren kann, wird es ganz ruhig.
   Das Badezimmer ist die Unterfütterung des Zimmers, die Unterseite des Lebens. Nach dem Bad bleiben in der Wanne Haare zurück, der Schmutz, der auf der Haut saß, lagert sich an der Innenwand der Wanne ab. Der Abfallkorb ist voller benutzter Tampons, Kosmetiktücher und Wattebäusche. Hier liegt ein Rasierer für die Beine, dort ein Spiegel zum Zupfen der Augenbrauen und Überschminken jeglicher Unentschlossenheit. Hier eine Dose Talkumpuder gegen Schweißfüße, dort ein Klistiergerät und ein Täschchen mit Präservativen. Das Badezimmer ist nicht imstande, diese andere Seite des Lebens zu verschweigen. Ich bringe alles oberflächlich in Ordnung, vielleicht fürchte ich sogar, die sakralen Beweise der Vergänglichkeit der Menschen, die hier wohnen, zu vernichten. Vielleicht sollten sie es wissen. Vielleicht hatten sie keine Gelegenheit, es im Fernsehen zu sehen, in den Nachrichtensendungen, die alles miteinander vermischen, eines über das andere legen wie in einem Hamburger, vielleicht haben sie es nicht in der Schule gelernt, vielleicht gibt es so etwas nicht in den Filmen. Auf dem Mond hat Armstrong es auch nicht entdeckt: Dass wir mit jedem Augenblick vergehen. Lebend sterben. Sie genauso wie ich.
   Das bringt mich ihnen näher, diesen reichen, kraftstrotzenden Amerikanern, die so anders sind als ich. Sie haben ja ihr unglaubliches Land, einen anderen Rhythmus, jeden Tag Orangensaft zum Frühstück und eine Sprache, die die ganze Welt spricht. Vor zweitau

send Jahren wären sie die Römer gewesen, und ich hätte in der Provinz gelebt, in irgendeinem Gallien oder Palästina. Aber sie und ich haben einen Körper, der aus demselben Lehm gemacht ist und vielleicht auch aus demselben Staub, einen Körper, der Haare verliert, altert und runzelt und am glatten Wannenrand einen Schmutzkranz hinterlässt. Während ich saubere Handtücher bereitlege und frische Bademäntel aufhänge, habe ich eine so tiefe Empfindung unserer Verbundenheit in diesem Elend, dass ich reglos verharre.


(aus "Der Schrank" von Olga Tokarczuk)