(...) Aber warum sollte der Briefträger Körberl Atnasal Acsal erschossen haben? Konnte das zusammengehen, versuchte der Kommissar hartnäckig den rechten Daumen in den kleinen Finger seiner rechten Hand zu bohren. Gut, Ponstingl-Ribisl hatte das italienische Devotionalienbild bei dem Toten gefunden, das, so hatten Ermittlungen ergeben, aus San Giovanni di Laterano stammte, der alten Papst-Basilika. Die vier unter den Namen Acsal tätowierten Punkte hatte er gesehen, die eine die heilige Agnes verehrende Sektion scheinheiliger Freimaurer auszeichnete.
   Die heilige Agnes war bekanntlich im vierten Jahrhundert dazu bestimmt, einen römischen Heiden zu ehelichen, was die Christin aber verweigerte. Als Strafe zogen die Römer, die schon immer ein unbarmherzig lautes Volk waren, sie nackt aus und stellten sie der Menge hin. Doch siehe, welch ein ersprießliches Wunder, noch bevor sich ein einziges Augenpaar auf die Agnes spannen konnte, ihre Titten, ihre Scham zu sehen, ließ der keusche Herr Gerechtigkeit erblühen und ihr in Sekundenbruchteilen den Haarwuchs so beschleunigen, dass keiner etwas zu Gesicht bekam. Keine Titten, keine Scham. Nur Haar und Haar und Haare überall. Ein Wunder also. Schon das war ungerecht, den Spannern ein Wunder vorzuführen. Die eigentliche Frage, überlegte Ponstingl-Ribisl, der das auch alles bloß gelesen hatte, aber ist, ob auch die restliche Körperbehaarung im gleichen Tempo angewachsen war. Dann, so stellte er sich vor, wären aus Achseln, Scham und Arsch die Haare rausgeströmt. Haar und Haar und Haare überall. Vielleicht auch von der Lippe, gewiss aus Nase, Ohr, vom Hals, den Unterschenkeln, ganz entsetzlich. Alles Haar. Knechtl grinste. Krumpl schnitt ein verächtliches Gesicht. Und was war mit den Lidern? Mit den Wimpern? Man sah, diese Legendenerfinder hatten es sich leicht gemacht. (...)


Aus dem Roman "Scala Santa oder Josefine Wurznbachers Höhepunkt" von Franzobel.