Leseprobe:

Die Gruppe reiste dann weiter nach Wien, wo sich wohl die überwältigendste Menschenmenge seiner beiden Europareisen versammelt hatte. Glücklicherweise existieren noch Wochenschaufilme von dem Ereignis, die zeigen, wie Chaplin über den Köpfen der Menge getragen wird - vom Bahnhof bis zum Hotel Imperial. Bei dieser Gelegenheit sprach Chaplin auch seine ersten Worte vor einer Tonkamera, fünf Jahre vor Modern Times.
Ziemlich nervös sagte er lediglich "Guten Tag! Guten Tag!", während er Hut und Stock fest an sich drückte, damit sie in dem Meer von Gesichtern nicht verlorengingen. Die romantischen Begegnungen von Berlin waren vergessen, als er bei der Pianistin Jennie Rothenstein gemeinsame künstlerische Begeisterung entdeckte. Dem Temperament des schönen Operettenstars Irene Palasthy war er jedoch nicht gewachsen, und er beschloss, nicht nach Budapest zu fahren, aus Angst, dass die vielgerühmten weiblichen Schönheiten der Stadt sich als ebenso temperamentvoll erweisen könnten.

Chaplin zog dann mit seiner Begleitung weiter nach Venedig. Die Stadt beeindruckte ihn zwar tief, aber er fand sie so melancholisch, dass er nur ein paar Tage zu ihrer Besichtigung dort verweilte. Als er ankam, fürchtete er, Marion Davies auf einem ihrer Europabesuche dort vorzufinden. Tatsächlich fiel sie einige Monate später in Venedig ein, als Chaplin längst anderswo weilte und somit eine Einladung zu einer bombastischen Party in ihrem Palazzo dankend ablehnen konnte.

Von Venedig fuhr Chaplin mit dem Zug nach Paris, wo er mit Aristide Briand speisen und den Orden der französischen Ehrenlegion empfangen sollte. Dass ihm diese Ehrung zuteil wurde, hatte der nichtsahnende Chaplin einer Gruppe seiner französischen Bewunderer zu verdanken, die von dem Karikaturisten Cami, seinem ersten und treusten Pariser Freund, angeführt wurde. Cami war sogar während Chaplins Aufenthalt im Carlton nach London gekommen. Aber Chaplin war so beschäftigt gewesen, dass er ihm lediglich eilig die Hand schütteln konnte, als er am letzten Abend seines Aufenthalts das Hotel verließ, um zur Liverpool Street Station zu fahren.

Als sich der Zug Paris näherte, stiegen französische Polizisten zu, die Chaplin empfahlen, wegen der riesigen Menschenmengen den Zug nicht erst am Endbahnhof zu verlassen. Sie hatten seine Hotelreservierung eigenmächtig ins Crillon verlegt, um den schlimmsten Ansturm der Massen zu umgehen. Chaplin war verärgert über diese Einmischung in seine Pläne und weigerte sich, früher auszusteigen, erklärte sich aber mit der Änderung des Hotels einverstanden. Trotz der Massen und des zwölf Mann starken Polizeikordons, den man um Chaplin gelegt hatte, schaffte Cami es irgendwie, an seine Seite zu gelangen. Chaplin war darüber eher verärgert als erfreut, und als man ihm ein Mikrophon entgegenstreckte, in das er hineinsprechen sollte, wurde er richtiggehend wütend, weil er den Verdacht hatte, dass Cami hinter diesem "Anschlag" steckte. (Cami hatte sich lediglich des Vergehens schuldig gemacht, ihm ins Ohr zu brüllen, dass es die Menge erfreuen würde, wenn er irgend etwas wie "Bonjour Paris" sagen würde.) Cami begleitete die Chaplingesellschaft zum Crillon, doch Chaplin war immer noch böse auf ihn und bestand darauf, dass man ihn hinauswarf. Soweit man feststellen kann, war dies die letzte Begegnung zwischen den beiden, doch der sentimentale Cami ließ sich in seiner Anbetung seines Jugendidols nicht beirren.

Außer dem Lunch mit Briand gab es noch zwei denkwürdige gesellschaftliche Ereignisse in Frankreich. Bei einer ziemlich angespannten Audienz bei König Albert von Belgien saß Chaplin auf einem sehr niedrigen Stuhl, während der große König auf einem viel höheren platziert war. Dieses Erlebnis lieferte Chaplin die Idee für das Treffen der rivalisierenden Staatsoberhäupter in The Great Dictator.

Im Zug nach Venedig hatte Chaplin mit dem Herzog und der Herzogin von Westminster Bekanntschaft geschlossen und unklugerweise eine Einladung zu einer Wildschweinjagd auf deren Gut in Saint Saëns in der Normandie angenommen. Nach den Strapazen des Ritts musste er noch tagelang massiert werden. Außerdem war Chaplin, der inzwischen stets viel Wert auf seine äußere Erscheinung legte, gar nicht erfreut darüber, dass er von Presseleuten in einem unvorteilhaften Jagdkostüm fotografiert wurde, das aus Teilen bestand, die er sich vom Herzog und anderen Gästen unterschiedlicher Größe ausgeborgt hatte. Auch das wurde später im Kostüm des "Tierbändigers" in Limelight festgehalten.


(Aus "Chaplin - Sein Leben. Seine Kunst" von David Robinson;
Diogenes, 2002. 863 Seiten. ISBN 3-257-22571-7)