Leseprobe:

    Musik wabert in mein Bewusstsein, ein schwerer, schleppender Klang, basslastig, ein harter, martialischer Sound, aber kein Techno, eher Jazz. Vor mir steht Valmont, mit Ledermantel und Kandelaber, unheimlich wie Dracula. Er ist groß und hat ein scharfkantiges finsteres Gesicht. Seine Augen sind dunkel umschattet wie die eines Inders. Er lächelt grimmig, diabolisch, kaltschnäuzig. Er ist Furcht erregend und schön im flackernden Kerzenlicht. Wenn er ein Mörder ist, dann ist er der schönste Mörder der Welt. Ich will mich aufrichten, um ihn besser sehen zu können, aber ich kann meine Arme nicht bewegen.
    Valmont ist unwirklich, fremd, ein Rätsel. Er spricht kein Wort. Es gibt Dinge, die sind so perfekt, dass man erschrickt. Ist er hier oder träume ich? Er kommt langsam näher, in der linken Hand den Kerzenleuchter mit drei flackernden Kerzen. Er reißt mir mit einem Ruck die Decke weg, öffnet den Gürtel meines Morgenmantels und betrachtet meinen Körper. Langsam neigt er den Kerzenleuchter. Weißes Wachs löst sich träge und tropft. Ich sehe, wie es auf meinen Schenkel auftrifft, aber der Schmerz kommt verzögert. Ein paar Zehntelsekunden später. Ich träume nicht. Ein Stich, schrecklich schön. Valmont nähert sich, es tropft mehr Wachs, auf Schenkel, Schoß, Bauch und Brüste. Ein Lustregen aus Wachs, jeder Tropfen trifft ins Mark. Die Körperoberfläche verfügt über zweihundertfünfzigtausend Kältepunkte und dreißigtausend Wärmepunkte. Sie sind hauptsächlich zur Differenzierung von Temperaturen da. Ich klage, genieße, versinke in einer geheimnisvollen dunklen Welt. Er macht mich abhängig und sich unsterblich. Valmont stellt in Zeitlupe den Leuchter auf dem Boden ab und sieht riesig aus, so von unten beleuchtet, wie Liam Neeson in Schindlers Liste.
   Er streckt die Hand aus und streift mir den Morgenmantel von der Schulter. Seine Lippen sind leicht geöffnet. Ich will ihn küssen, aber meine Handgelenke sind links und rechts über meinem Kopf am Fensterrahmen festgebunden. Ich zerre und kämpfe und kann ihn doch nicht erreichen. Sein Atem ist genau vor meinem. Ich spüre seinen Atem, ich spüre ihn, ich rieche ihn, ich sauge ihn auf. Zwischen uns sind nur noch einige Zentimeter. Ich möchte ihn ansehen. Küssen und dabei ansehen. 92 von 100 Frauen, aber nur 52 von 100 Männern schließen die Augen beim Küssen. Beim leidenschaftlichen Kuss schlägt das Herz bis zu 150-mal in der Minute (normal 60 - 80). Der Blutdruck steigt von 120 auf 180. Die Atemfrequenz verfünffacht sich. Die
Körpertemperatur steigt um 0,5 Grad.
   "Ich möchte Sie küssen, Valmont", sage ich zu dem Mund, der unmittelbar vor mir ist.
   "Ich will jetzt nicht sprechen", sagt streng der Mund.
   Nur noch Millimeter trennen uns. Ich spüre die Kühle seiner schmalen, harten, fordernden Lippen. Lippen bestehen zu über 50 Prozent aus Wasser.
   Ich spitze meine, so weit es geht, um seine zu erreichen, spüre aber nur einen
Hauch. Schon dieser Hauch kitzelt am ganzen Körper! Valmont riecht nach Nubukleder und billiger Seife und Sonne auf warmer Haut. Meine Zunge sucht seine. Seine Lippen schmecken salzig. Ein Kuss besteht aus 0,45 Milligramm Salz, 0,76 Milligramm Fett, 0,1 Milligramm Eiweiß, 0,16 Milligramm Drüsensekret und 61 Milligramm Wasser. Valmont beißt mich sanft, dann noch einmal fester und zieht sich rasch zurück wie ein Reptil, das neues Gift in seinen Drüsen sammeln muss.
   Beim normalen Kuss werden 12 Muskeln bewegt, beim leidenschaftlichen 29. Der stärkste Muskel des Menschen ist die Zunge. Valmont streichelt mein Gesicht und endlich, endlich berühren sich unsere Lippen, immer nur so weit, wie er will. Ich will ihn ansehen, aber es ist zu schön und meine Augen schließen sich. Unser erster Kuss! Und für den Rest meines Lebens will ich weiterküssen. Ich würde ihn so gern streicheln, an mich ziehen, sein Haar fühlen, seinen Schädel fest an meinem spüren. (...)


Aus dem Roman "Ruf! Mich! An!" von Else Buschheuer.
Erschienen als gebundene Ausgabe, sowie als Taschen- und Hörbuch!
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