Luis Landero: "Der Gitarrist"


Saitenweise glühende Begierden und feuriger Flamenco

Emilio war glücklich und zufrieden mit seinem Leben: Morgens zur Lehre; abends ins Abendgymnasium; nachts Hausaufgaben machen. Und kaum war er eingeschlafen, "da hörte ich schon das ... drängende Flüstern meiner Mutter: Aufstehn, Emil! Beeil dich! Du kommst noch zu spät!"
Statt mit Erholung war sein Wochenende mit Besorgungen für seine Mutter ausgefüllt. Duldsam in sein Schicksal ergeben, entwickelt er eine bemerkenswerte Technik, um mit wenig Schlaf auszukommen: "Ich erlangte die Fähigkeit, ein Auge zu schließen ... und mit diesem Auge und der dazugehörigen Hälfte meines Körpers zu schlafen, während das andere Auge und die andere Körperhälfte wach und wachsam blieb."
Alles war so schön überschau- und vorhersehbar für den jungen Arbeitersohn im Madrid der 1960er Jahre. Und so wäre es auch geblieben, wäre nicht Emilios windiger Vetter Raimundo aufgetaucht.

Raimundo ist ein in Frankreich erfolgreicher Flamenco-Gitarrist. Dies behauptet er zumindest. Ungefragt mischt er sich in Emilios Leben ein. Ruhm, Ehre, Geld und reihenweise in Ohnmacht fallende Frauen verspricht Raimundo, und zumindest das Letzte erscheint Emilio so verlockend, dass er beginnt, Gitarre zu lernen. Und schon bald scheint sich die Prophezeiung zu erfüllen. Emilios Chef Don Osorio bittet ihn, seiner schönen Frau Adriana Gitarrenunterricht zu geben, und er verliebt sich in sie. Fast gleichzeitig folgen erste Auftritte, die im Laufe der Erzählung sogar in eine Tournee münden.
Raimondos Einflüsterungen scheinen sich zu bewahrheiten. Gutgemeinte Warnungen altgedienter und gestandener Gitarristen schlägt er in den Wind: "... dies Geschäft hier ist hart und vor allem trügerisch und voller Falsch. Von hundert, die anfangen, bleibt höchstens einer, aus dem etwas wird. Die Übrigen gehen unter ... Die Welt des Flamenco ist nichts als heiße Luft."

Das Kleine im Großen
Doch Luis Landero beschränkt sich in seinem Roman nicht nur auf das warm gezeichnete Lebensbild eines liebenswerten Niemands, sondern zeichnet auch ein stimmiges Zeitbild Spaniens zur Zeit der Militärdiktatur Francos. Direkt wird auf Franco kein Bezug genommen. Doch gelegentlich finden sich Passagen im Roman, welche die politische Situation erwähnen, jedoch nicht kommentieren. Beispielsweise flicht der Protagonist in die Beschreibung seines morgendlichen Weges zur Arbeit ein: "Etwas weiter musste ich einen ungeschützten Platz überqueren. Zwei Polizisten ... beobachteten das Unternehmen. Am Rande des Platzes stand eine Kirche. Ich lief ... daran vorbei und murmelte ... ein Gebet; aber ich zügelte doch meinen Schritt ... und nahm eine demütige Haltung ein. Die wachsamen Augen der Polizisten ... und die Beschwörungsformel meines Stoßgebetes ließen mich einen Moment lang in der diesigen Morgenluft schweben."

Rund um Emilio erzählt Luis Landero von weiteren Personen, Begebenheiten und Ereignissen, die nicht unbedingt direkt mit Emilio in Verbindung stehen, jedoch dazu dienen, das literarisch stimmige Bild zu vervollständigen, zu ergänzen und abzurunden. Dadurch entsteht ein lebensbejahendes, farbenfrohes und mediterranes Lebensgefühl ausstrahlendes Porträt einer Jugend mit all ihren Wünschen, Träumen, Gefühlen und gemachten Fehlern. Dies ist umso erfreulicher, als der Autor bereits zu Beginn des Romans eine Andeutung macht, die darauf schließen lässt, dass die angestrebte Musikerkarriere nicht wunschgemäß verlief: "Vor langer Zeit (als mir noch nicht einmal der Gedanke gekommen war, dass ich eines Tages Schriftsteller werden könnte) war ich Gitarrist ..." Schön, dass nach diesem Beginn keine Betroffenheitsserenade folgt. Bemerkenswert auch, wie leicht lesbar und doch von komplexer Struktur diese spanische Hochliteratur daher kommt. Somit eignet sich dieser Roman sowohl perfekt als Einstieg in die Welt der "anspruchsvollen Belletristik" als auch zur Befriedigung verfeinerter Literaturliebhaber - und dies gilt nicht nur für Liebhaber spanischer Autoren, sondern für jeden, der ein Lesevergnügen sucht.

Einen klitzekleinen Kritikpunkt gibt es doch. So wäre es sozusagen das I-Tüpfelchen gewesen, hätte man die spezifischen Flamenco-Termini in Spanisch belassen und in einem Anhang diese dann eingedeutscht. Natürlich unter der Bedingung, dass man keinen Terminus übersieht, wie es leider bei einem anderen Buch des Berlin Verlags versehentlich geschehen ist.

(Wolfgang Haan; 07/2006)


Luis Landero: "Der Gitarrist"
(Originaltitel "El guitarrista")
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen.
Berlin Verlag, 2006. 336 Seiten.
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Luis Landero wurde 1984 in Albuquerque in der spanischen Provinz Badajoz geboren. Mehrere Jahre arbeitete er als Gitarrist einer professionellen Flamencotruppe. Sein erster Roman "Späte Spiele" (1989) wurde mit dem Spanischen Nationalpreis und dem Spanischen Kritikerpreis ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Mit ähnlichen Erfolg veröffentlichte Landero später die Romane "Glücksritter" und der "Der Zauberlehrling" (Berlin Verlag 2004).

Weitere Bücher des Autors:

"Glücksritter"

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"Der Zauberlehrling"
Freiwillig-unfreiwilliger Anführer des Ganzen ist der Prokurist Matías Moro, ein alternder Junggeselle, der unbestreitbar Familienähnlichkeiten zu seinem berühmten Landsmann Don Quijote aufweist. Matías hat durch eine Verkettung merkwürdiger Umstände die Bekanntschaft einer sehr viel jüngeren, dem Mädchenalter eben erst entwachsenen Frau gemacht. Für Matías soll die Firmengründung vor allem dem Zweck dienen, sein schlechtes Gewissen zu besänftigen, fürchtet er doch, bei der in dürftigsten Verhältnissen lebenden Martina und ihrer Familie falsche Hoffnungen geweckt zu haben. Wo Matías, nicht bloß des Altersunterschieds wegen, eine gemeinsame Zukunft mit Martina sich nicht einmal vorzustellen wagt, möchte er ihr wenigstens zu einem menschenwürdigen Arbeitsplatz verhelfen - ihr und möglichst vielen ihrer ebenso unterprivilegierten Freunde und Bekannten. Um auf diese Weise selbst lieber heute als morgen sein geliebtes, wenn auch eintöniges Junggesellenleben wieder aufnehmen zu können. Zu Matías’ Entsetzen greifen seine nicht weniger verschroben-eigenbrötlerischen Kollegen den Plan mit wachsender Begeisterung auf. Bald schon stürzen sie sich jeden Tag nach Büroschluss alle zusammen wie im Rausch auf die große Aufgabe, die ihnen die Erfüllung ihrer geheimsten Wünsche zu versprechen scheint. Und in den besten Momenten erheben sich ihre Träume von Effizienz, Marketing und Branchenführerschaft so hoch über den harten Boden der Alltagswirklichkeit wie manche Sequenzen aus den Filmen des großen Zauberers Federico Fellini.
Don Quijote gründet einen Konzern. Kaum ein Bereich der heutigen Welt wartet so sehnsüchtig darauf, von der Muse geküsst und vom Zauberstab des Dichters berührt zu werden, wie die scheinbar alles beherrschende Wirtschaft. Luis Landero kommt diesem Bedürfnis auf einzigartige Weise entgegen: In luxuriöser Ausführlichkeit erzählt er von dem fantastischen Abenteuer einer Unternehmensgründung durch eine Hand voll kleiner Angestellter einer obskuren Finanz- und Rechtsberatungsagentur.
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Noch ein Buchtipp:

Érik Orsenna: "Eine Geschichte der Welt in 9 Gitarren"

Ein junger Mann erbt eine alte, wertvolle Gitarre, die er, da er nicht spielen kann, dem Gitarrenbauer zurückgeben will. Dieser aber rät ihm, Unterricht zu nehmen und das Instrument, wenn er schläft, neben sich ins Bett zu legen, weil es sich dann in seine Träume mengen wird. Und so träumt der junge Mann von berühmten Gitarristen und vom Einfluss der Musik auf die Weltgeschichte. In den neun höchst originellen Episoden dieses Buches, das erstmals 1996 in Frankreich erschien und 2004 dort neu von Érik Orsenna in überarbeiteter Form herausgebracht wurde, wird die Geschichte der Gitarre von den Pharaonen bis zu Jimi Hendrix als weltgeschichtliches Ereignis behandelt.
Die mit viel Witz und Erfindungsreichtum erzählten Geschichten oder Träume dieses Buches verdanken sich auch der besonderen Beziehung Érik Orsennas zur Musik allgemein und speziell zur Gitarre. Sein Bruder Thierry Arnoult ist Gitarrist und hat an dem Buch mitgewirkt, und die Idee, die größten Gitarristen in einem Buch auftreten zu lassen, haben die Brüder gemeinsam entwickelt. Und so lassen sie den jungen Mann mit der Gitarre im Bett von der Eroberung Perus und der Pest in Barcelona träumen und davon, was die Gitarren dabei vermochten, vom Wettstreit zwischen Luigi Legnani (Gitarre) und Niccolò Paganini (Geige), von den Bemühungen Ludwigs XIV. am Versailler Hof um dieses Instrument und von einem großen Gitarristen-Endkampf auf Kuba. In einer für ihn typischen Mischung aus Realismus und Fantasmagorie erzählt Érik Orsenna intelligent und unterhaltsam, komisch und grotesk von der heilenden und die Welt verwandelnden Kraft der Kunst. (C.H. Beck)
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