Björn Kern: "Die Erlöser AG"


Ähnlich wie in seinem vorigen Buch, "Einmal noch Marseille", verarbeitet Kern auch dieses Mal persönliche Erfahrungen, die der 1978 geborene Autor während eines langen Lebensabschnittes in Südfrankreich machte. Unter anderem arbeitete er dort als Pfleger in einem psychiatrischen Pflegeheim. Neben den dort erlebten Menschen und den abgespeicherten Bildern des Alterns sowie des körperlichen und seelischen Siechtums waren es wahrscheinlich aber auch die aktuellen Diskussionen über die demografische Entwicklung in Deutschland und die zum Teil drastisch inszenierten Horrorvisionen in den Medien, zuletzt ein höchst umstrittener Mehrteiler in der ARD, die Björn Kern zu diesem zugegebenermaßen utopischen, in seinen Schilderungen aber mehr als einmal eindrucksvollen Roman inspiriert haben. Seine gesellschaftlichen Annahmen sind dabei frei gewählt, sie sind zueinander nicht immer logisch stringent, aber das tut der Aussage und der Absicht des Buches keinerlei Abbruch.

Kern will aufrütteln, betroffen machen, aber er tut es nicht rührselig oder mit erhobenem Zeigefinger, sondern nutzt meisterhaft die literarischen Möglichkeiten der Groteske und der Ironie, er spielt mit suggestiven Bildern, die den Leser nicht loslassen und ihn nachdenklich und verstört zurücklassen.

Der Roman spielt in einem nicht näher genannten Zeitraum in der Zukunft. Die beschriebenen Umstände legen eher eine Zeit nach dem Jahr 2030 als vorher nahe. Deutschland und erst recht seine Hauptstadt Berlin sind völlig überaltert. Es gibt mittlerweile mehr Menschen über hundert Jahre als junge Menschen unter zwanzig. Die Pflege der alten, einsamen Menschen ist rigide geregelt und läuft nach Minutentakt unter enormem Einsatz von Psychopharmaka. Wer auffällt, z.B. indem er krank oder sterbend mitten auf den trostlos gewordenen Straßen zusammenbricht, kommt in ein Altenghetto, aus dessen Klauen es für niemanden mehr ein Entrinnen gibt. Mittlerweile wird der Bedarf an jungen Arbeitskräften, unter anderem für die Pflege der Alten, aus Usbekistan gedeckt.

Natürlich ist in den vergangenen Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts die Diskussion weitergegangen, wie dieses Problem der Alten und Dementen gelöst werden kann, und Kern nimmt für die Zeit um 2030 an, dass öffentliche Meinung und Moral einen Stand erreicht haben, der seinen Ausgangspunkt für den Roman auf skurril-erschreckende Weise wirklich möglich sein lässt: Der Bundestag schafft mit einer Zweidrittel-Mehrheit den Paragrafen 216 ab, das bedeutet, die Tötung auf Verlangen bleibt fürderhin straffrei.
Eine Entscheidung, die der Oberarzt an der Berliner Charite und Transplantationsspezialist mit großer Triage-Erfahrung, Hendrik Miller, sehr begrüßt und sich sofort zunutze macht. Er gründet zusammen mit dem Jungredakteur Paul Kungebein, der beruflich bisher kaum ein Bein auf die Erde bekommen hat, eine Agentur, die Dementen und Alten, gegen entsprechende Bezahlung natürlich, anbietet, aktive Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen, durchzuführen.

Paul Kungebeins Vater ist dement, und neben seiner journalistischen Tätigkeit pflegt er ihn noch zu Hause. Die Schilderung, wie sich der junge Sohn mit dem alten Vater abmüht, wie die Demenz des Alten das Leben und die Zeit des Jungen gänzlich bestimmt, ist beindruckend und erschreckend; ist es doch nur eine überzogene und mit Mitteln der Ironie überzeichnete Beschreibung des Alltags vieler pflegender Angehöriger schon heute. Sie werden sich darin einwandfrei wiedererkennen.

Hohen Wiedererkennungswert haben aber auch die sensiblen und anrührenden Beschreibungen der Lebens- und Gedankenwelt alter, pflegebedürftiger und dementer Menschen, mit denen Kern in seinem lesenswerten Roman nicht spart.
Besonders die hundertjährige Elsa Lindström, Bewohnerin des Berliner Altenghettos und erste Patientin der neugegründeten Sterbehilfeagentur, spielt in dem Roman eine wichtige Rolle, weil unter anderem ihr Lebens- und Leidensweg bis zum Ende nachgezeichnet wird.

Man ahnt schon in der Mitte des Buches, wohin die ganze Sache für Paul Kungebein und seinen Vater, aber auch für Hendrik Miller führen wird und ist doch am Ende sehr überrascht über die Wendung, die der Roman nimmt.

Auf eine spannende, sehr bewegende und dennoch radikal nüchterne Art ist es Björn Kern gelungen, mit Mitteln eines utopisch-realistischen Romans auf ein nach wie vor unterdrücktes Thema aufmerksam zu machen.
Der Leser ist auch deshalb so betroffen, weil er um die mit jedem Lebensjahr steigende Wahrscheinlichkeit weiß, selbst am Ende seines Lebens mit Zuständen wie den im Buch beschriebenen konfrontiert zu werden. Der letzte Satz des Romans deutet an, auf welchen gefährlichen und teuflischen Weg die Menschen sich hierbei begeben könnten - oder haben sie es nicht schon längst getan?

Diesem Buch wünscht man viele Leser.

(Winfried Stanzick; 07/2007)


Björn Kern: "Die Erlöser AG"
C.H. Beck, 2007. 272 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Björn Kern wurde 1978 in Lörrach geboren. Nach seinem Debütroman "KIPPpunkt" (dtv 2001) folgte im Verlag C.H. Beck der vielgelobte Roman "Einmal noch Marseille" (2005). Björn Kern erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt das Heinrich-Heine-Stipendium. Er lebt in Südbaden und in Berlin.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Einmal noch Marseille"

"Ich werde mich nicht mehr bewegen können", sagt die Mutter in Björn Kerns zweitem Roman. "Ich werde nicht mehr schlucken können, und am Ende ersticke ich." Das Leben in der kleinen Familie aus Vater, Mutter und Sohn wird kompliziert, grotesk, eine Belastung für die Nerven, eine Herausforderung, dennoch zu lieben und füreinander da zu sein. Längst führt der Sohn, der Erzähler, ein eigenes Leben. Aber die Krankheit der Mutter zwingt ihm eine Nähe auf, die alles auf den Prüfstand stellt. Der Sohn läuft nicht weg, hilft der Mutter, hilft dem Vater, hilft sich selbst. Die Mutter ist vital, kämpft um jeden Fußbreit Leben, provozierend, liebenswert, heroisch, unerträglich.
Björn Kern erzählt schnell, genau, mit Witz, Liebe und gänzlich unsentimental davon, was es bedeutet, mitten im Leben Abschied nehmen zu müssen. Seine präzise, poetische Sprache trägt den Leser durch diesen aufwühlenden und bewegenden Roman voller Szenen und Dialoge, die man nicht mehr vergisst. (C.H. Beck)
Buch bei amazon.de bestellen