Alessandro Barbero: "Karl der Große"

Vater Europas


Umfassende Biografie des Frankenkönigs und Kaisers, die zahlreiche Bezüge zum heutigen Europa aufzuzeigen vermag

Heute noch streiten Deutsche und Franzosen zuweilen, ob Karl der Große Deutscher oder Franzose war - eine obsolete Frage, er war Franke.
Wichtig ist vor allem sein Wirken als Europäer, der ein riesiges Reich schuf und ordnete. Der italienische Autor Alessandro Barbero untersucht in seiner Biografie Leben und Wirken des fränkischen Kaisers und von diesem ausgehende Einflüsse und Impulse, die heute noch in der europäischen Gesellschaft fortwirken.

Zunächst umreißt er die fränkische und gallische Geschichte und die Machtergreifung der Pippiniden, deren Geschlecht Karl entstammte. Es folgen Kapitel über Karls Kriege, die sich oft über lange Zeit hinzogen, dem Reich aber enorme Zuwächse bescherten. Eine Schlüsselstellung nahm die Auseinandersetzung mit den Langobarden ein. Karls Macht in Italien und dem Großteil des restlichen Europas führte zur Allianz mit dem Papst und über die Kaiserkrönung schließlich hin zum späteren Römischen Reich deutscher Nation. Ein späteres Kapitel befasst sich übrigens mit der Organisation und praktischen Durchführung dieser Kriege, die logistischer Meisterleistungen bedurften.

Der Autor geht jedoch keineswegs nur auf die von Karl bewirkten politischen Umwälzungen ein. Ausführlich widmet er sich in mehreren Kapiteln verschiedenen Aspekten der Regierung, so zum Beispiel der Struktur der Institutionen unter Einbeziehung der Kirche (die weitgehend vom König/Kaiser abhängig war). Auch die Einkünfte des Staates und seiner Träger beziehungsweise Repräsentanten sowie die von Karl durchgeführten Justizreformen, die sich vor allem gegen Willkür und Korruption wandten, ansonsten aber weitgehend an das bestehende Recht eroberter Länder anknüpften, spielen eine wichtige Rolle.

Ein Kapitel widmet sich der Gelehrsamkeit am Kaiserhof und im Reich allgemein. Sehr interessant sind die Ausführungen zu den Veränderungen im wirtschaftlichen Bereich, die sich zu Karls Zeit - und zum Teil von ihm initiiert - abspielten; zentrales Thema hierbei ist die Organisation der Landwirtschaft mit einigen Versuchen, die Situation von Sklaven und de facto nicht minder als sie abhängigen Freien zu verbessern.

Das letzte Kapitel schließlich befasst sich mit Karl dem Großen im Alter, jener Phase, die in der gängigen Geschichtsschreibung häufig als Scheitern interpretiert wird. Der Autor betrachtet die letzten Jahre des Kaisers in einem freundlicheren Licht und zeigt in der Schlussbetrachtung noch einmal auf, wie viel "Karl der Große" weiterhin in Europa fortlebt.

Die Biografie setzt sich mit allen Aspekten des gewaltigen Reichs von Karl dem Großen und natürlich mit dessen Person und Persönlichkeit sehr gründlich auseinander. Der Autor verwendet neueste Forschungsergebnisse und deutet ältere Befunde und etablierte Meinungen, wenn nötig, unter diesen Gesichtspunkten um. So ergibt sich ein Bild von Karl dem Großen und seiner Zeit, das nicht sonderlich viel gemein hat mit dem finsteren Mittelalter, als das man diese Epoche gern ansieht. Im Gegenteil, es zeigt sich, dass Karl ein in vielen Dingen - von der aggressiv betriebenen Zwangsbekehrung der Sachsen und anderen Fehlern abgesehen - weitsichtiger, weltoffener und relativ toleranter Herrscher war, der versuchte, den als politische Einheiten etablierten unter den von ihm eroberten Ländern weitgehende Souveränität unter einem gemeinsamen Dach zu überlassen, wie wir das vom Grundgedanken der EU her kennen. Auch mancher von Karl in Mitteleuropa eingeführte Rechtsgedanke wirkt bis in die Gegenwart fort, und seine Erkenntnis der Bedeutung von Bildung, die er nicht nur den Söhnen seiner Edlen angedeihen lassen wollte, wirkt erstaunlich modern angesichts des Bildes vom kriegerischen Franken, das man gern mit Karl verbindet.

Der Verlust des byzantinischen, sprich: oströmischen Einflusses auf die katholische Kirche und deren Vereinnahmung durch den Frankenkönig und -kaiser löste jene folgenschweren Verwicklungen zwischen Papsttum und Krone aus, die zum Investiturstreit, in letzter Konsequenz jedoch zu den laizistischen europäischen Staaten der Moderne führten.

Indem der Autor die europäische Welt zu Karls Zeit detailliert darstellt und aufzeigt, wie der Frankenkönig mit den vorhandenen Möglichkeiten sein Reich umgestaltete, wobei er hier und da auch scheiterte, vermittelt er einen Überblick über die durchaus in großer Zahl vorhandenen Bezüge zwischen dem karolingischen und dem heutigen Mitteleuropa, selbstverständlich aber auch über die Eigenheiten des Mittelalters.

Da das Buch in einem angenehmen, nicht zu trockenen Stil verfasst ist und, wie erwähnt, eine Vielfalt an mit Karl dem Großen verknüpften Themen behandelt, eignet es sich für einen weiten Leserkreis aus am Mittelalter und an europäischer Geschichte und Kultur interessierten Menschen.

(Regina Károlyi; 04/2007)


Alessandro Barbero: "Karl der Große"
(Originaltitel "Carlo Magno. Un Padre dell'Europa")
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Klett-Cotta, 2007. 460 Seiten.
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Alessandro Barbero, geboren 1959 in Turin, ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität von Ostpiemont in Vercelli.
Er hat verschiedene Bücher zur mittelalterlichen Geschichte veröffentlicht, u. a. das "Wörterbuch des Mittelalters" (1998).
Er schreibt regelmäßig für das Feuilleton von "La Stampa" sowie für andere Zeitschriften. Barbero hat drei Romane verfasst, darunter den Erfolgstitel "Das schöne Leben des Edelmannes Robert Pyle und die Kriege der anderen", der 1996 mit dem "Strega-Preis" ausgezeichnet und in sieben Sprachen übersetzt wurde.