Sudhir Kakar: "Kamasutra oder die Kunst des Begehrens"


Nach altindischer Auffassung dient das Leben zur Erreichung dreier Ziele: dem Guten (Dharma), dem Nützlichen (Artha) und dem Angenehmen (Kama). Das Kamasutra stellt einen praktischen Leitfaden dar, um das letzte der drei genannten Ziele, das Kama, zu erreichen. 1250 kurze Abschnitte, die Sutra, handeln von Stellungen, Stimulierung und Statur der Liebenden sowie Geheimmitteln der Lust. Das Werk dient zur Erlernung der Liebeskunst und richtet sich sowohl an Männer als auch Frauen.

Das Kamasutra ist das älteste überlieferte Buch dieser Art. Geschrieben wurde es von Mallanaga Vatsyayana. Doch wer war dieser Mann, der soviel von Liebe und Erotik und vor allem von Frauen verstand? Tatsächlich weiß man nichts Genaues über sein Leben oder die Entstehung des wohl berühmtesten Lehrbuchs über die Liebe. Angenommen wird, dass das Kamasutra im 3. oder 4. Jahrhundert nach Christus entstand, zur Zeit der Gupta Dynastie, einer Hochblüte des wissenschaftlichen und kulturellen Lebens, die später auch als "Goldenes Zeitalter" angesehen wurde.

Sudhir Kakar versucht in seinem Roman, das Leben Vatsyayanas und die Entstehung des Kamasutra zu beleuchten. Erzählt wird die Geschichte aus Sicht eines Schülers Vatsyayanas', dessen Ziel es ist einen Kommentar zum Kamasutra zu schreiben.

Vatsyayana wird als Sohn eines Kaufmanns und einer Kurtisane geboren. Von klein auf ist er umgeben von einer Atmosphäre voll Erotik, Lust und Sinnlichkeit. Er wächst im Haus seiner Mutter und seiner Tante Chandrika, einer berühmten Kurtisane ihrer Zeit, auf. Der kleine Vatsyayana hegt grenzenlose Bewunderung und Liebe für Chandrika. Sein Verhältnis zu seiner Mutter allerdings ist zwiespältig, und er fühlt sich ungeliebt von ihr. Seinen Vater, einen reisenden Kaufmann, sieht er nur in großen Abständen, bis er ihn eines Tages auf eine seiner Handelsreisen mitnimmt.

Vatsyayana berichtet seinem aufmerksamen Schüler von seiner Erziehung in einer Einsiedelei, die er nach dem Tod des Vaters aufsucht und erst als junger Mann wieder verlässt. Lebte er zuvor in einem von Frauen dominierten Haushalt, findet er sich nun in einer Einöde nur von jungen Männern und Buben umgeben. Er erzählt, wie er die Gunst des Königs Udayana erlangt, der ihn schließlich damit beauftragt, eine Abhandlung über das Kama zu verfassen, die sein Lebenswerk wird.
Offen und ungezwungen schildert Vatsyayana seinem begierigen Zuhörer seine Lebensgeschichte, und die Vertrautheit und Freundschaft zwischen Lehrer und Schüler wächst.
Doch während Vatsyayana die Erinnerungen seiner Kindheit und Jugend wieder aufleben lässt, entgeht ihm die zarte Zuneigung zwischen seinem Schüler und seiner Frau Malavika, die letztlich in einer verbotenen und für Außenstehende schändlichen Liebesbeziehung endet. Ein Verrat, der nicht wiedergutzumachen ist.

Sudhir Kakar ist Psychoanalytiker und war bislang vor allem als Sachbuchautor bekannt. Er nimmt auch in seinem ersten Roman eine analytische, wissenschaftlich distanzierte Haltung ein. Begehren, Schmerz, Leidenschaft und Liebe - der Roman erzählt von tiefen menschlichen Gefühlen, vermag dabei aber nicht wirklich zu berühren. Nie wird man als Leser in den Bann der Erzählung gezogen. Die Geschichte wird leidenschaftslos berichtet und ist nur stellenweise fesselnd. Es wird zwar über Erotik, Sinnlichkeit und Sexualität geschrieben, aber der Roman vermag nicht zu "erotisieren" oder Spannung zu erzeugen.

Schade, dass ein Buch, welches ein so poetisches und sinnliches Thema aufgreift, so wenig Esprit und Leidenschaft vermittelt.
Positiv hervorzuheben ist allerdings, dass das Buch einen Zugang zu den alten Schriften des Kamasutra schafft. Das Original ist für Menschen unseres Kulturkreises eher schwer nachvollziehbar. Der Roman verhilft zu besserem Verständnis.

(wm; 08/2002)


Sudhir Kakar: "Kamasutra oder die Kunst des Begehrens"
Übersetzt von Nathalie Lemmens.
dtv, 2002. 368 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Ein weiteres Buch des Autors:

"Freud lesen in Goa. Spiritualität in einer aufgeklärten Welt"

Sudhir Kakar, der bekannteste Psychoanalytiker Indiens, untersucht ein Phänomen, das lange Zeit in der Psychoanalyse vernachlässigt wurde: das Zusammenspiel von Psyche und Geist. Er betrachtet dieses Zusammenspiel in unterschiedlichen Kontexten: durch Heilung emotionaler Störungen, in religiösen Ritualen und in den Leben von drei bekannten spirituellen Meistern - dem im 16. Jahrhundert lebenden tibetisch-buddhistischen Drukpa Kunley, dem indischen Guru Bhagwan oder Osho und Mahatma Gandhi.
Religion und Spiritualität waren zwar immer schon ein Thema der Psychologie, aber das rationalistische Verständnis des Menschen ließ wenig Spielraum für eine ernsthafte Beschäftigung mit "höheren" Mächten. Heute kann man offen zugeben, dass das Leben auch Sinnsuche ist, und die Psychologie erkennt spirituelle Potentiale der Psyche durchaus an. Wie kann man das Verhältnis von "romantischen" und "rationalistischen" Bedürfnissen beschreiben? Was bedeutet die Suche nach Authentizität? Sudhir Kakar beginnt seine Erkundung in Poona mit der Geschichte des Begründers des "spiritualistischen Marktes" Rajneesh, später Bhagwan oder Osho genannt. Worin lag seine unglaubliche Anziehungskraft vor allem für Teile der westlichen  Eliten? Welche Rolle spielten Narzissmus und Egozentrismus in seiner Lehre? Und wie sieht es mit der praktischen Spiritualität eines Mahatma Gandhi aus, die sich weniger in Meditation und Kontemplation als vielmehr in einer alltagspraktischen Aufmerksamkeit äußerte? Worin unterscheiden sich diese "Gurus" und ihre Lehren von der westlichen Auffassung von "den Alltag hinter sich lassen und an einer anderen, erlösenden Welt partizipieren"? Sudhir Kakar stellt die unterschiedlichen Zugangsweisen nicht gegeneinander, sondern beschreibt ihre Intentionen und den Weg, wie sie sich ergänzen und bereichern. Tatsächlich ist so ein Buch über die Versöhnung von Geist und Psyche entstanden. (C.H. Beck)
Buch bei amazon.de bestellen