Raj Kamal Jha: "Wenn du dich fürchtest vor dem Fall"

"Schaut auf das Umschlagbild, da steht ein Kind, ein Mädchen in einem roten Kleid, und da fliegt ein Vogel, eine Krähe in einem bläulich weißen Himmel. Und dann sind da noch ein paar Dinge, die ihr nicht seht. ..." (Aus dem Roman)


Der indische Autor Raj Kamal Jha erzählt in seinem opulenten Roman in drei voneinander scheinbar völlig unabhängigen Teilen eine einzige große Geschichte und verwebt die Schicksale verschiedener, sehr unterschiedlicher Menschen zu einem dicken, unentwirrbaren und faszinierenden Strang.

Wie ein roter Faden zieht sich das nahezu mystische Bild eines traurigen kleinen Mädchens in einem roten Kleid durch die Geschichten, meist steht es auf einem Balkon in einem in unterschiedlichen Kontexten auftauchenden Haus, das von der Straßenseite aus wie ein weinendes Gesicht wirkt, mit Augen aus Fenstern, hinter verschlissenen fleckigen Vorhängen wie halb geschlossen, die Jahreszeiten haben sich in Form von Regen, Wind und Sonne in langen Streifen ins Mauerwerk gefressen und sehen aus wie Spuren von Tränen. Der Balkon stellt den Mund dar, nach unten gezogen vom Gesicht schwerer Geländer. Viel Trauer liegt in diesem Bild, und viel Trauer und Schwere finden sich auch sonst in den verschiedenen Geschichten, die eigentlich im Grunde eine immer wiederkehrende Geschichte erzählen.

Der erste Teil des Buches handelt vor langer langer Zeit von zwei Hauptpersonen, einer Frau namens Rima und einem Mann, der Amir heißt. Beide leben in einer riesengroßen sterbenden Stadt mit sechzehn Millionen Einwohnern (wie aus einem Zitat hervorgeht, liegt die nicht namentlich benannte Stadt nicht in Nordindien) - das Schicksal bringt sie durch einen Unfall eines Nachts zusammen und verbindet so Leben, Welten und Personen. Bald wird aus ihrer Begegnung Liebe, eine Liebe, die durch völlig unterschiedliche Herkunft, Ansichten und Lebensstile geprägt ist, die beiden tiefe Erkenntnisse beschert und doch nicht zwangsläufig glücklich enden muss.

Eine wichtige Rolle spielt ein ungewöhnliches Gebäude, Schauplatz von Teilen der Geschichte/n: Paradise Park, das höchste Gebäude der Stadt, das so raffiniert gebaut war, dass niemand wusste, wie viele Stockwerke es tatsächlich hatte oder wie viele Menschen darin lebten. An zählen war nicht zu denken, weil es in die Höhe ragte wie ein großer Zylinder, auf der Außenseite glatt, ohne irgendwelche Linien, die Stockwerke oder Fenster markierten. Unzählige Geschichten und Gerüchte kursierten unter den Stadtbewohnern über Paradise Park, und der Zauber des Gebäudes scheint tatsächlich grenzenlos.

Nach dem Unfall bringt Rima den verletzten Amir in ihre Wohnung weit oben im Paradise Park, wo er die nächste Zeit bleibt, - einem Ort völlig konträr zu seinem gewohnten Umfeld, einer Zweizimmerwohnung in jenem Haus, das von der Straße wie ein weinendes Gesicht aussieht. Seiner Arbeit im Postamt Shimla und dem Nachhilfeunterricht für die Tochter seines Vorgesetzten kann er durch seine verletzungsbedingte Abwesenheit für einige Zeit nicht nachkommen. Rima sorgt aufopfernd für ihn, bestellt Ärzte, kümmert sich um Medizin und Nahrung. Langsam kommen die beiden einander näher und Rima drängt es mehr über ihn zu erfahren, seine Wohnung, seinen Arbeitsplatz, den Kinosaal, die Bushaltestelle zu sehen.

Im zweiten Teil macht sich die junge Journalistin Mala aus der Großstadt auf den Weg in eine provinzielle kleine Stadt, um die Umstände des gewaltsamen Todes eines kleinen Mädchens zu recherchieren. Die einzige Arbeitsunterlage, die ihr dabei zur Verfügung steht, ist die schlechte Kopie des einseitigen kurzen lakonischen Obduktionsberichtes, die sie erst nach Bestechung eines Spitalspflegers an sich bringen konnte, der sie zum Kopieren in ein nahegelegenes Fotostudio in der Free School Street im Rotlichtviertel verweist. Die Leiche des Mädchens wurde in einem Kanal an der Peripherie der Stadt aufgefunden, und Mala macht sich auf die Suche nach brauchbaren Hinweisen, um über den Todesfall berichten zu können, stößt aber auf eine Mauer aus Ablehnung und Schweigen. Spuren verlieren sich, niemand scheint Näheres zu wissen, keiner will ihr Wesentliches sagen, obwohl mehrere Betroffene, wie der Obduzierende und der Polizeichef, mit ihr reden.

Schließlich gelingt es ihr, mit der Mutter des ermordeten Mädchens zu sprechen, und diese erzählt von ihrem Kind im roten Lieblingskleid und mit der Puppe. Zurück im Hotelzimmer tauchen bei Mala Erinnerungen an ihre eigene Kindheit auf, sie als Mädchen, die Mutter, der Vater. Und wie ein grässlicher Refrain Erinnerungsfetzen an Missbrauch, kleine Mädchen und große Männer. Töchter und Väter. Auch Alam taucht auf, der ihr Freund sein will und sich schließlich auch als solcher entpuppt.

Der dritte Teil beginnt mit einem roten Kleid, an dem der geheimnisvolle Freund der jungen Kleidträgerin zupft, beschäftigt sich mit einer merkwürdigen Serie von Selbstmorden und bringt wesentliche Erkenntnisse durch detektivisches Beobachten. Wieder geht es um einen Laden, in dem Puppen verkauft werden, eine Krähe, das Postamt Shimla, hausfrauliche Aktivitäten der Mutter, einen Zeitungsartikel über ein ermordetes Mädchen, die Park Street und ein Schullesebuch mit gezeichneten Personenporträts, wie jene von Rima und Alam, und es geht um Träume.

Manche Menschen und Elemente des Romans tauchen in unterschiedlichen oder ähnlichen Erscheinungsformen in den drei Teilen des Buches in verschiedenen Zusammenhängen auf, verschwimmen zu einem bekannten Bild oder entgleiten durch ihre Verwirrung stiftenden Verwandlungen. Das Bild des kleinen traurigen Mädchens beschränkt sich örtlich keineswegs lediglich auf den Balkon, auch als sehnsuchtsvoll ihre Traumpuppe in einer Auslage bewunderndes Kind taucht sie auf.
Das Zimmer in der Free School Street über einem Fotostudio der Prostituierten, die Amir einmal wöchentlich aufsucht, spielt ebenso eine Rolle, die über bloße Eindimensionalität hinausreicht, wie vieles in Raj Kamal Jhas Erzählung - eine Krähe erscheint als Flugobjekt, eine andere (eine andere?) landet verletzt in Rimas Obhut, das nur für Wenige zu hörende Weinen eines Kindes als wiederkehrende Symbole in diesem Buch voller Rätsel.

Langweilig als bezeichnende Kategorie zu verwenden, wäre viel zu einfach gegriffen, denn was anfänglich wenig spektakulär als eher langatmige Schilderung ausufernder Beschreibungen ohne erkennbar interessante Handlung beginnt, entpuppt sich bei geduldigem Weiterlesen als sorgfältig aufbereitetes Gerüst für eine mitreißende und tiefgehende Rahmenhandlung mit durchaus fantastischen Einfällen: Eine Krähe wird zum Transportmittel für menschliche Passagiere, die sich vor dem Fall nicht fürchten, ein Wohnhaus mutiert zu einer utopischen Hochhauskonstruktion voll wundersamer Dimensionen, märchenhaft irreale Wesen werden zu wohlwollenden Freunden, und winzige Menschen ertrinken in Wassergefäßen. Den Protagonisten gemein sind gespenstische Gedanken und innere Bilder aus Gegenwart und Vergangenheit, die nicht nur Zeit und Raum überwinden, sondern auch Lebenswege verknüpfen.

(Gabriele Klinger; 04/2005)


Raj Kamal Jha: "Wenn du dich fürchtest vor dem Fall"
(Originaltitel "If you are afraid of heights")
Aus dem Englischen von Walter Ahlers.
Goldmann, 2005. 352 Seiten.
ISBN 3-442-31015-6.
ca. EUR 20,50.
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Raj Kamal Jha wurde 1966 geboren und verbrachte die ersten achtzehn Lebensjahre in Kalkutta. Er studierte Journalismus an der University of Southern California und arbeitete für verschiedene Zeitungen in Los Angeles und Washington. 1992 kehrte er nach Kalkutta zurück, seit 1994 lebt Jha in New Delhi, wo er als Redakteur des "Indian Express" tätig ist. Sein Debüt "Das blaue Tuch" wurde von der Presse hymnisch gefeiert und in zahlreiche Länder verkauft. Der Roman wurde von der New York Times als "Notable Book of the Year" ausgezeichnet.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Das blaue Tuch"

Mitternacht in Kalkutta: das Lärmen des Verkehrs ist endlich verstummt, schwüle Stille senkt sich über die Stadt. In einem spärlich erleuchteten Zimmer sitzt ein Mann und schreibt. Immer wieder hält er inne und lauscht. Denn nebenan schläft ein zwei Tage altes Mädchen, das Baby seiner Schwester, die bei der Geburt gestorben ist ...
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